Schlüssel umdrehen, Gang einlegen und die Kassette. Musik aufdrehen, losfahren. Lenkrad mit den Knien festhalten, Zigarette drehen. Anzünden, einatmen, bis es in der Lunge brennt. Lauter aufdrehen. Die Scherben scheppern in den Boxen:
… Für mich ist die Welt nicht mehr in Ordnung
Nicht früh um Sieben und auch nicht nach der Tagesschau
Für mich heißt das Wort zum Sonntag: „Scheiße“
Und das Wort zum Montag: „Mach mal blau“ …
(Wir müssen hier raus, aus: Keine Macht für niemand)
Ich war irgendwo zwischen 18 und 20 und Rio Reiser einer meiner Helden. Einer, der Macht kaputt, was euch kaputt macht und Keine Macht für niemand genauso unerbittlich rausschrie, wie er inbrünstig die Morgensonne, den Junimond und das Paradies beschwörte. Einer der ungebremst zwischen Himmel und Hölle unterwegs war und seine Abstürze so ekstatisch mitnahm, wie seine Höhenflüge.
Wütend-zerbrechlich-kaputt-sehnsüchtig. Anarchisch-visionär, archaisch-zart. Kurz: Alles und noch viel mehr. Der schrabbelige Scherben-Sound, die Texte, Rios Stimme, die immer leicht erkältet und ordentlich durchgesumpft klang. Genau dieses Alles-und-noch-viel-mehr traf mich und drückte mich besser aus, als ich es gekonnt hätte.
„Die Weiße“ wurde die Doppel-LP von 1972 genannt, die mit beigelegter Zwille verkauft wurde. Das Cover war schlicht weiß mit schwarzer Schrift: Keine Macht für niemand – das war ohne Zweifel die Hymne: Auf den Punkt rausgerotzter Zorn. Meiner richtete sich damals auf 14 Jahre Schulgefängnis und Lehrer, deren Autorität ich nicht ernst nehmen konnte, denen ich übelnahm, dass sie sich so wenig in unsere junge Welt einfühlen konnten. Dass sie uns nicht meinten. Ich war zornig auf alles, was mir autoritär und gekünstelt daherkam. Das empfand ich als erstickend und bedrohlich gegenüber allem, was gerade so ungeformt aus mir herausbrach an Leidenschaftlichem, Ungestümem und Lebensdurstigem, diese ganze jugendliche Wucht, die das Leben greifen und gestalten wollte.
Ich kurbelte das Fenster runter, atmete die kühle Luft ein und das Gefühl von Freiheit: Mit dem anstehenden Abi schienen die Welt und unendliche Möglichkeiten aufzugehen … und die Moooooorgensonne schien … .
Der Rekorder klapperte angestrengt, er musste lange spulen. Dann kam es. Die Boxen knarzten, die erste Zigarette war ausgeraucht. Rio und ich sangen zusammen:
Ich hab‘ geträumt, der Winter wär vorbei
Du warst hier und wir waren frei.
Und die Morgensonne schien.
Es gab keine Angst und nichts zu verlier’n,
Es war Friede bei den Menschen und unter den Tier’n.
Das war das Paradies …
(Der Traum ist aus, aus: Keine Macht für niemand)
Ich hätte es damals nicht so genannt, aber: das war mein Choral, mein Psalm, meine Hoffnung …
Ich habe es nicht bewusst wahrgenommen, dass in diesem Song ein Weihnachts- und ein Adventslied zitiert werden. Im Instrumentalteil etwa bei Minute zwei klingt aus dem Weihnachtslied Als ich bei meinen Schafen wacht ganz zart die Melodie des Kehrverses Benedicamus domino auf – lasst uns den Herrn loben. Nach dem rausgebrüllten Refrain: … Das war das Paradies. Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird … verstummt der Text, als gäbe es jetzt nichts mehr zu sagen, sondern nur noch zu hoffen – oder zu beten … und wie von sehr weit weg, so leise, dass man es fast überhört weben sich hintergründig diese sakralen Klänge aus der Tradition der christlichen Liturgie in den Song.
Am Ende des Liedes verliert sich die Band instrumental in ekstatischen Klängen, um dann wie selbstverständlich kräftig und unüberhörbar mit den Schlussakkorden von Tochter Zion das Lied zu beenden. Die Scherben hatten keine Scheu, ihren Agitrock mit Choralklängen zu durchweben. Politischer Zorn und adventliche Sehnsucht: Träumt eure Vision von Wirklichkeit und träumt sie groß und laut!
Ton, Steine, Scherben verbinden rebellische Unangepasstheit mit mystischer Sehnsucht. Die Texte erinnern an die der biblischen Propheten und Psalmisten – die Vision von Freiheit und Gerechtigkeit, der Wechsel von Wut, Melancholie und Hoffnung, kontemplativ träumendes Suchen und der Aufruf zu Aktion:
Ich hab‘ geträumt, der Krieg wär vorbei
Du warst hier und wir waren frei
Und die Morgensonne schien
Alle Türen waren offen, die Gefängnisse leer
Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr
Das war das Paradies
Der Traum ist aus
Der Traum ist aus
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird
Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht
Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher
Dieses Land ist es nicht.
(Der Traum ist aus, aus: Keine Macht für niemand)
1975 veröffentlichten die Scherben ein Album, mit dem sie sich der Vereinnahmung durch die linke Szene zu entziehen versuchten und in dem ein musikalischer Genrewechsel hörbar wird. Mit Wenn die Nacht am tiefsten … wird es musikalisch balladen- und chansonhafter, textlich wird es träumender und religiös expliziter. So scheint in den visionären Träumen von Land in Sicht die eschatologische Hoffnung der Offenbarung auf:
Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz
Die lange Reise ist vorbei
Morgenlicht weckt meine Seele auf
Ich lebe wieder und bin frei
Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen
Die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verwehen
Die durstigen Lippen wird der Regen trösten
Und die längst Verloren-Geglaubten
Werden von den Toten auferstehen …
Einer der erfolgreichsten Titel der Scherben auf diesem Album ist Halt dich an deiner Liebe fest. Im Vergleich zum Anfang der Scherben könnte man diesen Song geradezu für kitschig halten. Für mich war es bei Liebeskummer, Selbstzweifeln und in Trauerzeiten eines der Lieder, in das ich meinen Schmerz hineinwerfen konnte, vor allem aber: das mir etwas gab, woran ich mich festhalten konnte. In seiner melodischen und textlichen Einfachheit hat es Größe, da es mit unprätentiöser Geste anbietet, was in kirchlicher Sprache oft so schwer zu fallen scheint: Eine Notfallspiritualität, die in jede Hosentasche passt:
Wenn niemand bei dir is‘
Und du denkst, dass keiner dich sucht
Und du hast die Reise ins Jenseits
Vielleicht schon gebucht
Und all die Lügen geben dir den Rest
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Wenn der Frühling kommt und deine Seele brennt
Du wachst nachts auf aus deinen Träumen
Aber da is‘ niemand, der bei dir pennt
Wenn der, auf den du wartest
Dich sitzen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Wenn der Novemberwind deine Hoffnung verweht
Und du bist so müde
Weil du nicht mehr weißt, wie’s weitergeht
Wenn dein kaltes Bett dich nicht schlafen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Wenn nichts mehr geht, weil das Leben zu sehr wehtut, wenn nichts mehr geht außer diesem Atemzug und dann dem nächsten, wenn der Satz: „Du kannst nicht tiefer fallen, als in Gottes Hand“ zynisch klingt und das Vertrauen auf und Glauben an etwas nicht mehr trägt, dann war mir oft das der letzte Grund, der tragen konnte – in einer Sprache, die einfach und unverbraucht und mir darum glaubwürdig erschien: Halt dich an deiner Liebe fest.
Gert Möbius, Bruder von Rio Reiser, hat dessen Biographie nach diesem Lied genannt. Halt dich an deiner Liebe fest – nicht ohne Grund. Rio Reiser war zerrissen, focht innere Kämpfe aus und schrieb in seinem Tagebuch über seine seelischen Tiefs, fühlte sich „unruhig innerlich“, suchte Kraft und Liebe. Denn „man kann verhungern auf der Suche nach Liebe und wenn ich meine Selbstmordgedanken habe, wünsche ich mir, dass auf meinem Grabstein steht: Verhungert auf der Suche nach Liebe.“
Sein letztes Soloalbum, Himmel und Hölle, eröffnet er mit deutlichen Anklängen an den Johannesprolog:
Da war ein Licht am Anfang der Welt,
ein Strahl, der die dunkelste Nacht erhellt,
der in die finsterste Ecke fällt,
das war das Licht am Anfang der Welt.
Am Anfang der Welt war da ein Klang,
schöner als jeder Engelsgesang.
Ein Licht, ein Licht, das uns jetzt fehlt,
das war und ist am Anfang der Welt.
Da war ein Wort am Anfang der Welt,
ein Wort, das die dunkelste Nacht erhellt.
Das Wort war Liebe war das Wort,
und das ist der Schlüssel zum großen Tor.
… (Irrlicht, aus: Himmel und Hölle)
Studienleiterin Annette Behnken veröffentlichte diesen Text in dem Buchprojekt „Doppelalbum. Popmusik und Biographie“. Darin beschreiben verschiedene Persönlichkeiten aus dem Leben der Kirche ihre biographischen Verknüpfungen zu jeweils zwei Alben in der Geschichte der Popmusik.
Das Buch wird vom Haus kirchlicher Dienste herausgegeben und ist hier kostenlos bestellbar.
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.