Die Evangelische Akademie Loccum gedenkt des früheren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Gottfried Mahrenholz. Er starb am vergangenen Donnerstag im Alter von 91 Jahren. Die Akademie ist ihm zu großem Dank verpflichtet. In den Jahren 1993-2000 war er Mitglied des Konventes der Akademie. Nicht nur in dieser Zeit engagierte er sich vehement für die Aufgabe der Akademie. Unvergesslich etwa seine religionspolitische Intervention aus dem Jahr 2005: „Das Problem der kopftuchtragenden Lehrerinnen ist die bislang wichtigste Prüfung, ob sich das deutsche Gemeinwesen dem Problem von Kultur und Religion … gewachsen zeigen kann … Diese Prüfung, soviel lässt sich schon jetzt sagen, hat es nicht bestanden. … Es wäre eine neue politisch-kulturelle Absurdität im politischen Betrieb des unwilligen Einwanderungslandes Deutschland, wenn der Staat seine Machtmittel in den Straßen zum Schutze einer Minderheit einsetzen müsste, die er vorher zum kulturellen Feind erklärt hat“ (26.) Seine intellektuelle Wachheit, seine Bereitschaft, eigene Positionen und Überzeugungen mit guten Gründen vehement zu vertreten, aber auch bemerkenswert offenherzig zu revidieren, seine Streitbarkeit, die von der Achtung vor der Person und den Auffassungen der anderen gekennzeichnet war, und seine Intuition, zentrale Problemlagen zu identifizieren, machten ihn zu einem geradezu idealen Ratgeber, der stets auf hochinspirierende Weise sehr lästig fallen konnte – regelmäßig mit konstruktiven Folgewirkungen. Typisch für ihn, den Vortrag während einer Tagung mit dem Titel „… dass Schuld auf unserem Wege liegt. Die Hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus“, so zu beginnen: „Meine Damen und Herren, auf der Kuratoriumssitzung der Akademie habe ich, als diese Tagung zur Sprache kam, gegen sie gesprochen“, um am Ende einzuschärfen: „Die Kirche heute. Es gab nach 1945 Peinliches. … vielfach haben wir uns unsre Kirche vielleicht anders gewünscht, besser, … Die Kirche ist unserer Gesellschaft vonnöten … eine Kirche, die sich gesellschaftlich eindrucksvoll zeigt, hat als ihre Hauptaufgabe, den Menschen nahe zu sein. Eine Kirche, die nicht mehr trösten kann, ist keine Kirche mehr“ (Loccumer Protokolle 58/97, S. 287;290f.).
Nicht weniger kam der Arbeit der Akademie seine weltläufige Berufsbiographie zugute: Staatsrechtler, Bundesverfassungsrichter, NDR-Rundfunkdirektor, Chef der Staatskanzlei, Kultusminister … Diese Weltläufigkeit bildete sich etwa während eines Symposions aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Akademie ab. Auf die Frage: „Hat uns die deutsche Nachkriegsgeschichte zukunftsfähig gemacht?“ gab er zu Protokoll: An drei Punkten bestehe die Gefahr, „hinter einen bereits erreichten Standard zurückzufallen.“ Das eine sei die „Parteiverdrossenheit … Die Parteien gehen von dem Grundsatz der Nichteinmischung des Volkes in die Politik aus; die für die Parteien schmerzliche Ausnahme sind die Wahlen“. Das andere sei ein mangelnder Respekt vor der Verfassung und ihren Organen. Vor allem aber sei nicht mehr hinreichend klar, dass das Soziale zum Fundament des Staatswesens selbst gehöre. „Die Armen sparen mich reich. Daß diese krasse Verleugnung des sozialen Gedankens im staatlichen Handeln Wirklichkeit werden soll und die Öffentlichkeit noch nicht beschäftigt hat, zeigt für mich, daß man … über diesen …. Grundzug unseres sozialen und staatlichen Handelns nicht mehr nachdenkt.“ In diesem Gespräch warnte er auch davor, den Begriff der Nation einer „politische[n] Rechte[n]“ zu überlassen oder „an eine ‚nebulöse Nation Europa‘ wegzugeben“ und ermunterte im Sinne einer demokratischen ethischen Verantwortungsübernahme Politiker*innen, öffentlich den Satz zu wagen: „Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort.“(Forum Loccum 4/1996, S. 6-11). 1999 kommentiert er kritisch ein Impulspapier zu „Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert“ und kritisiert, dass das Thema des Krieges darin nicht aufgerufen wurde, sei doch ein „Angriffskrieg im Namen der Menschenrechte nun einmal ein Thema der menschlichen Kultur“, zudem sei die Kirche „der Gesellschaft die Antwort auf die Frage“ schuldig geblieben, welchen Beitrag sie zur Frage eines religiösen Fundamentalismus als Kulturphänomen beisteuere. Im Impulspapier werde unkritisch in das Lamento vom „Werteverfall“ eingestimmt, jedoch die Diskussion über Werte „nicht genau genug geführt“, die Rolle der Medien und problematische Berufungen auf das Grundgesetz nicht diskutiert (Forum Loccum4/1999, S. 9f.). Schließlich: Abgestanden sei es, Familie, Kirche, Beruf und Kultur im Horizont von „Sinnstützen“ zu begreifen. Es gelte, sie im Sinne von Lebensformen neu zu denken.
Der Kirche, für die er als in der Wolle gefärbter Protestant kritisch brannte, als Frage auch dieser Tage auf den Weg mitgegeben: „Ist meine Kritik zu pauschal, wenn ich frage, wann endlich die Kirche das, was sie für gut befunden hat, nachdrücklich und beharrlich und mit der Penetranz verfolgt, die durch eine gute Sache gerechtfertigt wird?“ (Forum Loccum 4/1999, S. 11).
Ernst Gottfried Mahrenholz und Martina Weyrauch, Mitarbeiterin der Staatskanzlei Land Brandenburg. Symposion aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Akademie, 16. August 1996.