Wie schön, wie erleichternd war das doch als meine Tochter (12) im Juni letzten Jahres nach drei Monaten zuhause endlich wieder in die Schule konnte und Gleichaltrige traf. Die familiäre Lage entspannte sich schlagartig, die Konfrontation verflüchtigte sich und die Verantwortlichkeiten für Schule und Lernen lagen wieder da, wo sie hingehören.
Leider haben wir seit fast zwei Monaten alles wieder zurück! Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es schlimmer ist als je zuvor. Die ellenlangen Aufgabenblätter, die „Audio“konferenzen, die Liste der nicht erledigten Aufgaben, die nach Ablauf der Fristen rot erscheinen, der spärliche Kontakt zwischen dem Kind und seinen Lehrer:innen, die fehlenden sozialen Kontakte, die fehlende Bewegung.
„Lass mich in Ruhe“ heißt es bei uns. Aber auch: „Du bist dafür verantwortlich, dass ich heute die Französisch-Videokonferenz verpasst habe! Weil du mich heute nicht geweckt hast, mache ich heute gar nichts mehr!“
Von der Klassenlehrerin gefragt, wie es denn so im Homeschooling laufe, recken alle in der Klasse ihren virtuellen Daumen nach oben. Bestens. Alles tutti. Wirklich?!
Wie kann mich mein Eindruck nur so täuschen? Ich erlebe das Homeschooling als ein einziges Zerren und Ziehen. Streit und Türenknallen gehören zum Alltag. Ich habe sie alle durchtelefoniert, die Klassenlehrerin, die Beratungslehrerin, die Erziehungsberatung. Sie alle bemühen sich. Und doch kann ich die Ratschläge nicht mehr hören: schaffen sie eine angenehme Arbeitsatmosphäre für das Kind, strukturieren sie den Tag, sorgen sie für Pausen. Nicht länger als drei Stunden Hausarbeiten pro Tag. Und machen Sie nicht so viel Druck. Lassen sie einfach los. Das Kind muss das allein können. Ich habe das alles gemacht und bin trotzdem mit meinem Latein am Ende.
Müsste, könnte, sollte… die Theorie ist so wunderbar und meine Realität so weit davon entfernt. Mein Kind will auf diese Art nicht mehr lernen und verweigert sich. Es will nicht durch mich als Mutter kontrolliert werden, sondern die Dinge auf die eigene Art erledigen, so wie die Lebensphase es mit sich bringt. „Misch dich nicht in mein Leben ein! Ich schaffe das allein.“
Was für ein wichtiger, was für ein notwendiger Schritt. Hin zu mehr Selbstverantwortung und Mündigkeit – wer wünscht sich das nicht?
Nur, was macht man, wenn es nicht klappt, wenn allein machen heißt: nichts machen. Nicht aufstehen wollen, die Tage „verdaddeln“, sich nicht auf eine Sache konzentrieren, die Hausaufgaben unbearbeitet lassen und sich stattdessen durch Medien ablenken.
Handy und Tablet sind eben nicht nur der Zugang zu Iserv, sondern auch zu Instagram, Snapchat, Youtube und zur Whatsapp. Sie sind auch der Kontakt zur Außenwelt, in einer Zeit, in der reale Kontakte nicht möglich sind. Auf keinen Fall das Handy wegnehmen oder sperren – ich höre ihn noch, den Rat der Beratungslehrerin aus dem ersten Lockdown.
Irgendetwas passt hier nicht. Druck rausnehmen und Loslassen passen nicht zu der kleinteiligen Aufgabenflut, die jeden Tag kommt. Das „Funktionieren-Müssen“ nicht zum „Nicht-Funktionieren-Wollen“.
Quengelnde, ermahnende, um Struktur bemühte Eltern passen nicht zur Phase der Abnabelung.
Die Widersprüchlichkeiten im Verhalten meines Kindes und die Anforderungen, die mein Vollzeitberuf an mich stellt, passen nicht. Die schulischen Erwartungen in Coronazeiten nicht zu meiner Erschöpfung als Alleinerziehender.
Wie bringe ich das alles in Balance? Was lasse ich laufen und was nicht? Kontrolle oder Nicht-Kontrolle? Einmischen oder Nicht-Einmischen? Das Jahr abschreiben, die Klasse wiederholen?
Gesünder wäre es für alle Seiten und für unser Zusammenleben, wenn ich mich endlich für´s Loslassen entschiede. Einfach nicht mehr daran glauben, dass hier auch nur irgendetwas zu steuern, beeinflussen oder kontrollieren wäre. Mir sagen: Ich bin nicht dafür verantwortlich! Heute mache ich gar nichts mehr!
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.