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Muss die evangelische Friedensethik überarbeitet werden?

Interview der Landeskirche mit Politikwissenschaftler Dr. Thomas Müller-Färber

Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges steht die Friedensethik der evangelischen Landeskirchen unter Druck. Darauf reagiert die vierte Konsultation der EKD-Friedenswerkstatt mit einer Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum am 13. und 14. März 2024. Den Tagungsleiter Dr. Thomas Müller-Färber befragte nun Lothar Veit von der Landeskirche Hannovers zum Thema vorab in einem Interview für den wöchentlichen Newsletter. Hier können Sie das Interview nachlesen:

GEFRAGT
Drei Fragen zur Friedensethik…

…an Dr. Thomas Müller-Färber. Der Politikwissenschaftler ist an der Evangelischen Akademie Loccum Studienleiter für Internationale Politik und Internationale Beziehungen. Er leitet die Tagung „An den Rand gedrängt? Frieden und Zivile Konfliktbearbeitung in Zeiten eskalierender Gewalt“ (4. Konsultation der EKD-Friedenswerkstatt), die vom 13. bis 14. März in Loccum stattfindet.
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Herr Müller-Färber, seit dem Krieg in der Ukraine wurde mehrfach die Forderung laut, die EKD müsse ihre Friedensdenkschrift von 2007 überarbeiten. Welche Punkte stehen auf dem Prüfstand?

Thomas Müller-Färber: Die Friedensdenkschrift von 2007 ist ein Kind der 90er-Jahre. Sie setzt große Hoffnung auf die wachsende Durchsetzung des Völkerrechts und die Etablierung einer regelgeleiteten internationalen Ordnung. In der ersten Dekade nach Ende des Kalten Krieges gab es in den internationalen Beziehungen – wenn auch nicht überall – durchaus zahlreiche ermutigende Entwicklungen in diese Richtung. Mit dem Ende der 90er-Jahre hat sich die Situation jedoch Schritt für Schritt verdunkelt. Die 2007er-Denkschrift war im Grunde schon zum Zeitpunkt ihrer Erscheinung dabei, aus der Zeit zu fallen.

Trotzdem wäre es falsch zu glauben, es stehe jetzt eine komplette Überarbeitung der Denkschrift an – auch wenn einige populäre Forderungen der vergangenen Monate in diese Richtung gingen. Gerechter Frieden – im Text von 2007 steht er besonders im Mittelpunkt – hat von seiner normativen Kraft und orientierenden Wirkung nichts verloren. Im Gegenteil. Notwendig ist heute also keine umfassende Neukonzeption, sondern eine friedensethische Adaptation an die sich stark gewandelte sicherheitspolitische Ausgangslage.

Vor diesem Hintergrund stehen eigentlich recht viele Aspekte auf dem Prüfstand – beispielsweise die Konzeption von autoritären Mächten, die Stellung von Schutz- und Nothilfe oder die im 2007er-Text unterbelichtete Gefahr von Nuklearwaffen.

Insgesamt kann bereits gesagt werden, dass der zukünftige Grundlagentext weniger völkerrechtlich und stärker theologisch-friedensethisch im engeren Sinne sein wird. Hier besinnt sich die Kirche auf ihre Kernkompetenz.

Die meisten kirchenleitenden Personen befürworten Waffenlieferungen an die Ukraine zur Verteidigung gegen den Aggressor Russland. Der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer, der Ihre Tagung eröffnet, nimmt hier eine Minderheitenposition ein. Ist es unter diesen Voraussetzungen überhaupt möglich, einen Konsens über eine protestantische Friedensethik zu erzielen?

Müller-Färber: Wie heißt es so schön – Ethik ist für das Ganze, nicht aber für alles zuständig. Dies erlaubt eine gewisse Abstraktion von konkreten Fragestellungen, die besonders konfliktgeladen sind. Dennoch gibt es im Rahmen der EKD-Friedenskonsultation zum Teil sehr lebhafte Diskussionen und es wird an manchen Stellen ziemlich gerungen. Das dürfte auf der kommenden Loccumer Tagung, die ja die abschließende Veranstaltung in einem mehrmonatigen Diskussionszyklus darstellt, nicht anders werden. Nach Stand der bisherigen Verhandlungen sieht es aber danach aus, als könne ein Konsens erreicht und ein Grundlagentext erzielt werden, der beides ist – inklusiv und pointiert.

Inwieweit wirft der Gaza-Israel-Konflikt weitere neue Fragen auf? Wo sehen Sie hier Chancen für zivile Konfliktbearbeitung?

Müller-Färber: Frieden wird gemeinhin als Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit verstanden. Die 2007er-Denkschrift hat vor allem das obere Ende dieses Kontinuums in den Blick genommen. Ein positiver Friedensbegriff steht dort im Mittelpunkt, der durch ein hohes Maß an Gerechtigkeit bestimmt wird. Der Gaza-Israel-Konflikt zeigt, dass wir auch zum unteren Ende des Kontinuums friedensethisch sprachfähig werden müssen. Die Eskalation im Nahen Osten macht in aller Grausamkeit deutlich, dass negativer Frieden, der „nur“ durch die Abwesenheit von Gewalt gekennzeichnet ist, bereits einen Zustand darstellt, der schwer zu erreichen ist und erheblicher Mühen bedarf.