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Über Nutzen und Nachteil der Digitalisierung

Ein Beitrag von Florian Kühl, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit

Die Digitalisierung stürmt in diesen Wochen durch Unternehmen, Behörden, Schulen, Institutionen, Wohnzimmer – und auch durch die Akademie. Überall wird hastig aufgerüstet: Lizenzen für Videosoftware, VPN-Zugänge, Cloud-Lösungen, leistungsfähigere Laptops… All das wird jetzt rasend schnell angeschafft, um im Corona-Lockdown per Homeoffice noch arbeitsfähig zu bleiben oder aber um an Ostern das lange geplante Familientreffen mit Großeltern und Tanten zumindest noch per Videoschalte hinzubekommen.

Die zentrale Frage in dieser zivilisatorischen Sturmfahrt stellte meine zweieinhalbjährige Tochter dann bei besagter Videoschalte am Ostersonntag mit Blick auf den Monitor: „Papa, sind Oma und Opa jetzt eigentlich da oder sind sie nicht da?“ Sie entschied sich nach zirka drei Minuten Skype-Meeting für „nicht da“ und zog mich energisch nach draußen in den sonnigen Garten, um Verstecken zu spielen. Innerhalb von drei Minuten durchkreuzte meine Tochter damit das große Narrativ der Digitalisierung, dass sie immer mehr Menschen noch besser miteinander verbinde.

Ich brauchte aber leider erst einen aktuellen Artikel im SPIEGEL von Guido Mingels „Was die Coronakrise für die Techindustrie bedeutet“, um das wirklich ernst zu nehmen. Mingels schreibt aus San Franzisko: „Es gehörte stets zum Wesen der Digitalisierung, dass sie physischen menschlichen Kontakt reduziert.“ Zack, ein Satz, wie in Stein gemeißelt. Irgendwie ja nicht neu, aber doch in erfrischender Einfachheit mal festgehalten. Was bedeutet dieser Satz eigentlich für die kirchliche Institution Evangelische Akademie Loccum und für unser dortiges Arbeiten in Corona- und Postcorona-Zeiten?

Das Faszinierende an der Arbeit für eine kirchliche Einrichtung ist, dass die Kirche Menschen ermuntert, mit Gott und mit anderen Menschen in Beziehung zu leben – trotz aller Unvollkommenheiten in dieser Welt. Dieses Beziehungsgeschehen aber basiert wesentlich auf physischem Kontakt in der analogen Welt.

Wenn ich es richtig verstehe, dann unterstreicht nicht zuletzt auch die ganze Geschichte Jesu von der Fleischwerdung über das Ostergeschehen bis hin zur heutigen Abendmahlfeier diese Perspektive. Sie schreibt sich auch in den Grundansatz der Akademie ein. Wir sind fest davon überzeugt, dass der gesellschaftspolitische Diskurs über die verschiedensten Gräben und Abgründe hinweg am besten in der unmittelbaren physischen Begegnung von Menschen gelingt – und zwar bei uns im spröden Hörsaal A oder auf der Galerie oder bei einem Glas Rotwein auf sommerabendlich gewärmter Terrasse. Ich habe es selbst schon erlebt, wie schön das gelingen kann.

Vor diesem Hintergrund ist also Skepsis gegenüber dem Megatrend Digitalisierung angebracht, der so fabelhaft Menschen verbindet, indem er sie zuvor physisch trennt. Leiten uns digitale Techniken nicht auf raffinierte Weise an, uns letztlich voneinander vom Halse zu halten? Krümmen wir uns womöglich in eine menschengemachte digitale Welt des Selbst ein, die den Blick auf die Anderen und auch auf die Schöpfung verstellt? Ich befürchte schon und ich befürchte noch mehr, dass das nichts Gutes für den gesellschaftspolitischen Diskurs weltweit bedeutet. Erkennbar ist das bereits seit einigen Jahren. Für die Kirche und für die Akademie gilt es also wachsam zu bleiben, wenn  eine immer stärker gesellschaftsprägende Technologie direkte Beziehungen von Menschen unterbindet.

Bei aller Skepsis aber muss die Akademie in den Zeiten der Corona-Quarantäne und darüber hinaus auch eine digitale Akademie sein. Es ist besser, sich in innovativen digitalen Formaten auszutauschen, als dies gar nicht mehr tun zu können. Daran arbeiten wir jetzt mit aller Kraft. Es gibt auch eine riesige Chance, über neue digitale Formate und Kanäle mehr und andere Zielgruppen zu erreichen, als das bislang gelingen konnte. Wir freuen uns auch darauf, denn es ist eine großartige kreative Herausforderung.

Aus meiner Sicht aber sollte es für die Akademie einen Maßstab geben, an dem sie ihre Arbeit im digitalen Raum ausrichtet. Immer sollten die digitalen Angebote letztlich zur Begegnung in der analogen Welt ermuntern und damit Beziehungen stiften in Gottes guter Schöpfung – zum Beispiel auf Tagungen in Loccum.  Immer würden meine Tochter und ich für eine Welt plädieren, in der Oma und Opa tatsächlich physisch bei uns sind. Hoffentlich bewahren wir jetzt und in den digitalen Effizienz-Stürmen der Zukunft die sozialen Voraussetzungen, die dafür nötig sind.

In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.

 

Florian Kühl ist Leiter der Öffentlichkeitsarbeit