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Neue Normalitäten?

Ein Beitrag von Akademiedirektor Stephan Schaede

Es war Januar im 2016, da titelte Zeit-Online: „‘Das neue Normal‘“ : Permanent online, permanent verbunden – für viele ist Handyabstinenz schon heute die Ausnahme.“ Das war kritisch gemeint. Die Sorge der Gastautoren  Peter Vorderer und Christoph Klimmt galt damals sozial-kulturell riskanten Ersatzfiguren. Sie sorgten sich darum,  dass Wissenszugang Wissen, dass Crowd-Befragung Kreativität, dass Big-Data Institution ersetze.[1] Bloß kein neues Normal! Auch dieser Tage ist von „Neuer Normalität“ die Rede. Mit ihr verbindet sich auch eine Sorge, aber dieses Mal die Sorge, dass sich gesellschaftliche Kräfte und Mitbürger*innen einer neuen Normalität verweigern und sie sich nicht etablieren kann – mit, so wird vorgegeben, Gefahren für Leib und Leben und mittelfristige Wohlstandsperspektiven. Vor allem Vizekanzler Olaf Scholz annoncierte Mitte April 2020, dass Deutschland bis ins Jahr 2021 mit einer „neuen Normalität“ leben muss: „Was wir jetzt brauchen, ist für lange Zeit eine neue Normalität“, ließ er bündig wissen.[2]  Neue Normalität als Standard eines neuen Lebensgestaltungsethos! Diese Forderung hatte gleich viele „Väter“. So war im Fernsehen auch von „Jens Spahns neuer Normalität“[3] die Rede. Neue Normalität war nicht nur auf Bundesebene unterwegs. Sie gewann auch alsbald Lokalkolorit. „Alltagsmasken sollen in der Region Osnabrück  ‚neue Normalität‘ werden“, berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung[4]. Vom  Burkaverbot zur Maskenpflicht, das mag ein Wechsel sein. Krisen, so zeigt sich im Jahr 2020 setzen Normalitätsdynamiken der besonderen Art frei. Nicht nur, dass neue Normalitätsstandards beschworen werden, um Kriseneskalationen zu vermeiden. Auf einmal wird eine Bestimmung, die in nicht ganz wenigen wissenschaftlichen Kontexten eher nur mit spitzen Fingern angefasst wird, zur paradigmatischen Figur der Krisenbewältigung. Vorbehalte und Widerstände für ein solidarisches Einschwingen in soziale Enthaltsamkeit der Ausnahmesituation einer Krise sollen im Zeichen einer neuen Normalität eingedämmt werden. Immerhin in Österreich, also dort, wo vermutlich die Renaissance der Figur einer „neuen Normalität“ ihren Ausgang nahm, als Bundeskanzler Kurz Anfang April von „ersten Schritten in Richtung neue Normalität“ sprach [5], wurden auch kritische Stimmen laut. Es wurde Mitte April darauf aufmerksam gemacht, dass „Neue Normalität … für Familien“ ein „Rückfall in die Vergangenheit“ bedeutet.[6] Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland konkurriert inzwischen neues Normal mit normal. „Wann wird unser Leben wieder normal?“, fragte bereits Ende März die Brigitte.[7] Wenig später spricht der „Sexpodcast zu Ostern … über Coronavirus, Porno und neue Zeiten im Bett“ und fragt „Sexualität: Corona und Sex –geht das noch?“[8]

Bemerkenswert ist:  Die Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, ein Dokument, dass die Bundespolitik maßgeblich beeinflusst, verweigert sich einer Adaption der Rede von der neuen Normalität. Es nutzt das Prädikat „normal“ konsequent für einen nach der Krise wieder anzustrebenden gesamtgesellschaftlichen Normalzustand. Es gelte, so kann man da lesen, „Kriterien und Strategien zur allmählichen Rückkehr in die Normalität zu entwickeln“. Aufgabe sei eine „Rückführung in einen gesellschaftlichen Normalzustand … durch passgenaue … Maßnahmen“[9].

Was einem  bei der Rede von der neuen Normalität  irritieren mag, ist ja vor allem dies: Sie ignoriert, dass  gesellschaftliche Standards und grundrechtliche Regeln wie Überzeugungen in der Ausnahmesituation der Coronakrise weiter gelten. Die Ausnahmesituation der Krise sistiert eben nicht Normalität so sehr, dass von einer neuen Normalität die Rede sein müsste. Dem ist weiter nachzudenken. Irritierend ist ein Zweites: Verstummt sind jene Stimmen, die in den Vordergrund rückten, dass es normal sei, verschieden zu sein.[10] Das Tagblatt legte den Finger sogleich in die Wunde: „Das Virus schadet der Inklusion“.[11] Es mag mitten in der Coronakrise noch zu früh sein, semantisch ambitioniert über eine neue Konjunktur der Rede von der Normalität zu räsonieren. Eins macht der öffentliche Austausch über die Corona-Krise deutlich. Die Normalitätsvokabel lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Und es ist schon deshalb dringend angezeigt, für einen ebenso kritischen wie durchdachten Gebrauch von Normalität einzutreten. Das ist schon deshalb geboten, weil die Beziehung zwischen Normalität und Normativität aufregend kompliziert erscheint. Wer aber die konstruktive Dialektik von Normalität und Normativität leugnet, gefährdet womöglich ungewollt kostbare Freiheitsrechte und Freiheitsgrade eines freizügigen Zusammenlebens und einer offenen Gesellschaft.

[1] Vgl.  Das neue Normal: Gastbeitrag von Peter Vorderer und Christoph Klimmt: in: Die Zeit Nr. 5/2016, 28. Januar 201 6.

[2] Vgl. www.faz.net, vom 18.4.2020, 8:44Uhr.

[3][3] Vgl. ntv.de vom 17. April 2020.

[4] Vgl. Bericht von Jean-Charles Fay, NOZ, 18.4.2020, 6:35Uhr.

[5] Vgl. nw.krise.at vom 14.4.2020mit RTLnews vom 7. April 2020

[6] Vgl. www.otis.at: 16.4.2020, 11:00Uhr.

[7] Vgl. www.brigitte.de vom 27.3.2020.

[8] Vgl. 13. April 2020, 18:34Uhr.

[9] Vgl.  Dritte Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden, Halle 13. April 2020,  S. 4 mit S. 5.

[10] Vgl. www.caritas.de-heftarchiv-jahrgang 2010 Artikel: Es ist normal, verschieden zu sein, mit:  „Es ist normal , verschieden zu sein.“ Orientierungshilfe zur Inklusion des Rates der EKD Hannover 2015.

[11][11] Vgl. www.tagblatt.de 20.3.2020.

In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.

Dr. Stephan Schaede ist Akademiedirektor