Viel wird derzeit über die Höhen und Tiefen des Distanzlernens debattiert. Hat Deutschlands Bildungssystem die Digitalisierung verschlafen? Wie kann die technische Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler gewährleistet werden? Wann kommen wir vom Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen wieder zum Regelbetrieb? Wird es gelingen, den verpassten Unterricht aufzuholen? Wie lange müssen Eltern noch Familie, Homeschooling und Erwerbstätigkeit unter einen Hut bringen?
Bei all diesen Fragen, die von Bildungsexpert*innen noch um zahlreiche andere ergänzt werden könnten, kommt eine Frage bislang jedoch zu kurz: Wie ergeht es Kindern und Jugendlichen während der Corona-Zeit?
Diese Lücke hat nun ein Forschungsteam der Universität Hildesheim und der Goethe-Universität Frankfurt in einer bundesweiten Studie zu schließen versucht, indem es 6000 Jugendliche nach ihrer Sicht auf die Krise und ihren Erfahrungen der letzten Wochen befragt hat.
Besonders bemerkenswert sind dabei zwei Erkenntnisse: 1. Jugendliche sind es satt, im derzeitigen Diskurs nur als HomeSchüler*innen gesehen zu werden, die funktionieren müssen. 2. Es missfällt ihnen, dass die Erwachsenen momentan alles allein entscheiden.
Das Bedürfnis Gehör zu finden, ist groß, so die Forschenden. Viele Jugendliche und junge Erwachsene haben jedoch nicht den Eindruck, dass ihre Interessen in der derzeitigen Krise zählen. Sie nehmen nicht wahr, dass ihre Sorgen gehört werden und sie in die Gestaltungsprozesse eingebunden werden.
Wie steht es also um die Partizipation junger Menschen unter den Bedingungen von Distanzlernen und Kontaktbeschränkungen?
Optimistisch fragte ich noch im März engagierte Lehrkräfte in meinem Netzwerk, wie wir sie und ihre Schüler*innen mit interessanten (Online-) Angeboten in der Zeit nach Ostern unterstützen könnten. „Ich weiß, dass es viel Unterrichtsstoff nachzuholen gilt und auch wieder Klausuren geschrieben werden müssen“, so schrieb ich „aber vielleicht hätten Sie ja Zeit und Lust, ein bisschen Zeit in eine Art „Emperiment“ zu investieren, eine Idee, an der ich derzeit arbeite.“
Mir schwebte vor, ein spannendes, kurzes, regelmäßiges Online-Format zu aktuellen politischen Themen mit interessanten Gesprächspartner*innen für Jugendliche anzubieten und sie dabei nicht allein auf die Rolle von Fragesteller*innen zu reduzieren. Dieses Format sollte die Prinzipien, die uns sonst in unserer Arbeit wichtig sind, abbilden: Beteiligung, Dialog, Kontroversität, Austausch, Begegnung, Zugang zu ausgewiesenen Expert*innen und Partner*innen der Akademie.
So gelang es immerhin noch Ende April, mit knapp 50 engagierten Schüler*innen aus Göttingen gemeinsam eine Online-Diskussion mit dem amerikanischen Politikexperten Prof. Paul Rundquist zu den „US-Wahlen und Corona“ durchzuführen.
Doch seit der Öffnung der Schulen, die geteilte Lerngruppen, Präsenz- und Distanzlernen mit sich bringt, ist es schwierig geworden, Angebote für Schüler*innen zu platzieren, und noch viel schwieriger Jugendliche in diesen Formaten zu beteiligen.
Eine interessierte Lehrerin antwortete mir nach Rücksprache mit ihrem Kurs: „Die Jugendlichen sorgen sich um ihren Abschluss im kommenden Jahr und sie sehen sich nicht in der Lage, zusätzlich zum Homelearning Zeit in Ihr Vorhaben zu investieren.“
Eine andere Lehrerin schrieb: „Wir sind durch den phasenweisen Wiedereintritt der Schüler*innen in den Präsenzunterricht und die „Doppelgleisigkeit“ (paralleles Online- Unterrichten) gut beschäftigt.“ Es fehle schlicht die Zeit. Sie fände unsere Themen zwar persönlich spannend, könne sie aber schlecht verankern in ihren Kursen. „In den wenigen Präsenzstunden, die wir haben, müssen wir die Oberstufe auf ihre Klausuren vorbereiten.“
Ich verstehe das. So klar wie im Moment war es mir jedoch noch nie, wie abhängig ich vom System Schule in der außerschulischen Arbeit bin und wie aufgeschmissen, wenn dieses sich im Krisenmodus befindet.
Politische Bildung und die Beteiligung Jugendlicher braucht Zeit, außerschulisches Lernen braucht Freiraum. Zeit und Freiraum, von denen meine Tagungsarbeit für Schülerinnen der SEK II an der Akademie bislang lebte, sind derzeit Mangelware.
„Auch in Corona-Zeiten stellt die individuelle Förderung und die gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen ein zentrales gesellschaftliches Anliegen dar“, schreibt das Bundesnetzwerk der Kinder- -und Jugendarbeit in einem jüngst veröffentlichten Positionspapier. Bei den aktuellen Debatten über mögliche Lockerungen müssten deshalb auch die Perspektiven und die Bedarfe junger Menschen systematisch in den Blick genommen werden. In den Strategien von Bund, Ländern und Kommunen seien sie zu berücksichtigen. „Denn die gesellschaftliche Beteiligung und Teilhabe junger Menschen ist demokratierelevant!“
Die großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen haben sich mit Corona nicht verändert – sei es die Gefährdung unserer Demokratie durch Extremismen, sei es der Klimawandel und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformation, seien es die Grenzen unserer globalen Wirtschaftsweise oder die Konflikte dieser Welt.
Weiterhin (vielleicht mehr als je zuvor) ist die Kernaufgabe unserer politischen Bildungsarbeit, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, sich zu gut informierten, reflektierten, kritischen, gesellschaftsgestaltenden Menschen zu entwickeln. Sie sollen Dinge hinterfragen, sich selbst als politische Wesen verstehen und erleben, dass Realitäten veränderbar sind. Diese Kompetenzen sind gerade in Zeiten wie dieser besonders notwendig, wo Panikmache und einfache Erklärungen komplexer Zusammenhänge hoch im Kurs stehen.
Die Forscher*innen aus Hildesheim und Frankfurt unterstreichen, dass die Beteiligung Jugendlicher am gesellschaftlichen Diskurs kein Schönwetterrecht sein darf und krisenfest sein muss. „Wenn es in der Krise aussetzt, ist es nicht fest genug etabliert“, so die Autor*innen. Die Rechte der jungen Menschen sind ebenfalls Grundrechte, es sollte also genau bedacht und den jungen Menschen gegenüber begründet werden, wenn sie eingegrenzt werden.
Die Pandemie wird unser Leben und das der jungen Menschen noch lange bestimmen. Für mich in der Jugendarbeit ergibt sich daraus der Auftrag, der Situation angemessene Bildungsangebote zu entwickeln – idealerweise mit den Jugendlichen gemeinsam. Außerschulische Bildungsarbeit ist und bleibt ein unverzichtbarer Ort für Begegnung, Bildung, Beteiligung und Teilhabe junger Menschen. Unsere Arbeit mit Jugendlichen geht weiter, in neuen, anderen Formaten. Wir lassen uns was einfallen, auch wenn die Türen zur Schule derzeit noch verschlossen scheinen. Darauf können Sie sich verlassen!
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.