Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine markiere eine „Zeitenwende“ – so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar. Seitdem werden wir täglich überrascht von neuen politischen Wendungen: Scholz bewilligte im Handumdrehen 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Nachrüstung der Bundeswehr. Die Bundesrepublik liefert militärische Abwehrwaffen in ein Kriegsgebiet. Die Grüne Außenministerin Baerbock kündigt eine Nationale Sicherheitsstrategie an – unsere Sicherheit wird nun nicht mehr nur am Hindukusch, sondern in der gesamten vernetzten Welt verteidigt. Die EU will bis 2025 eine gemeinsame Eingreiftruppe von rund 5.000 Soldatinnen und Soldaten aufstellen – und Deutschland wird als erstes Land die Führung übernehmen.
Eine „Zeitenwende“ deutscher Politik ist dies jedoch nicht: Die begann bereits mit der deutschen Beteiligung an den Luftangriffen der NATO im Kosovo-Krieg 1999 – ein Kampfeinsatz, für den es nicht einmal ein UN-Mandat gab. Damals war Joschka Fischer (Grüner!) Außenminister. Es war der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Weitere Einsätze kamen hinzu: So folgte Deutschland den USA in den Einsatz nach Afghanistan. Mit rund 3.000 Soldatinnen und Soldaten ist die Bundeswehr derzeit auf drei Kontinenten an elf Einsätzen beteiligt: Als Teil der KFOR-Truppen im Kosovo, in Jordanien und dem Irak im Kampf gegen den „Islamischen Staat“, als Teil der NATO-Sicherheitsoperation „Sea Guardian“ im Mittelmeer, im Rahmen der „European Union Training Mission“ in Mali, mit der UN im Libanon, mit der EU am Horn von Afrika, bei UN-Missionen im Südsudan und in der Westsahara. Die Militärausgaben sind zwischen 2005 und 2020 kontinuierlich angestiegen: von 33,3 Milliarden US-Dollar 2005 auf 52,8 Milliarden US-Dollar 2020. Das Volumen der Rüstungsexporte stieg gar von gut fünf Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 9,35 Milliarden Euro im Jahr 2021. Anstatt einer „Zeitenwende“ sehe ich eher eine sich verstetigende Kontinuität in Deutschlands Unterstützung der Rüstungsindustrie. Und ein deutlicheres Bekenntnis zu militärischen Einsätzen.
In unserer Tagungsreihe „Friedenseinsätze…“ werden militärische Interventionen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte kritisch hinterfragt: Was wurde daraus gelernt – und was nicht? Die bittere Wahrheit ist: Keiner der oben erwähnten Einsätze der Bundeswehr hat bisher zu einem dauerhaften Frieden in einer Weltregion geführt. Der Rückzug aus Afghanistan, der für die einheimische Bevölkerung katastrophale Folgen nach sich zieht, bildet nur die Spitze des Eisbergs aus bleibendem Unfrieden.
„Aus Gottes Frieden leben – Für gerechten Frieden sorgen“, so lautet der Titel der EKD-Friedensdenkschrift aus dem Jahr 2007. Sie verwirft Friedenssicherung durch nukleare Abschreckung und gibt der zivilen Konfliktbearbeitung eindeutig Vorrang vor militärischen Interventionen. Sie fordert präventives Handeln für die Förderung eines nachhaltigen Friedens und die Stärkung ziviler Friedens- und Entwicklungsdienste. Damit sollte eine „Zeitenwende“ eingeleitet werden, in der Krieg keine Option mehr ist.
Ist diese Friedensethik nun am russischen Angriff auf die Ukraine gescheitert?! Waren die politischen Bemühungen um Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, das jahrzehntelange ökumenische Engagement für eine Transformation christlicher Ethik – weg von der Rechtfertigung für einen „gerechten Krieg“ und hin zum Einsatz für einen „gerechten Frieden“ – denn vergeblich?!
Ich glaube nicht. Der russische Angriffskrieg ist völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch müssen meines Erachtens die fortgesetzte – neue! – Blockbildung und die ebenfalls fortgesetzten Investitionen in Kriegsmaschinerie kritisch hinterfragt werden. Den deutschen Militärausgaben in Höhe von fast 53 Milliarden US-Dollar steht dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein Etat von gerade einmal 12 Milliarden Euro gegenüber. Präventive Arbeit für einen gerechten Frieden auch finanziell deutlich stärken, die Erkenntnisse aus der Entwicklungszusammenarbeit in UN-Friedenseinsätze übertragen, energiewirtschaftliche Abhängigkeiten von autoritären Staaten entschieden beenden und damit den Oligarchien die Machtbasis entziehen – das wäre eine „Zeitenwende“, die den Namen verdient! Dafür sollten sich auch die Kirchen mit ihrer wirtschaftlichen Kraft einhellig einsetzen und so ihre Friedensethik mit kräftigen Taten unterstützen. Die evangelischen Positionen zur Friedens- und Sicherheitspolitik werden übrigens in einer Expertinnen- und Expertentagung vom 1. bis 2. April 2022 an der Evangelischen Akademie Loccum diskutiert.
In der Kolumne „Hinterfragt“ veröffentlicht Akademiedirektorin PD Dr. Verena Grüter ihre persönliche Sicht der Dinge.