In Kooperation mit der Südosteurpa-Gesellschaft fand am 18. April in der Landesvertretung der Hansestadt Hamburg in Berlin eine Abendveranstaltung mit dem Titel „Vor den Wahlen – die Türkei am Scheideweg“ statt, an der insgesamt 70 Personen aus Politik, Medien und Wissenschaft teilnahmen. Am Podium, das von Jens Bastian (Center for Applied Turkish Studies (CATS)) moderiert wurden, nahmen PD Dr. Gülistan Gürbey (Freie Universität Berlin), Max Lucks (MdB, Bündnis90/Die Grünen, Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe) und Christian Mihr, (Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen) teil. Das Grußwort sprach Manuel Sarrazin, Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft und Beauftragter der Bundesregierung für den Westlichen Balkan.
Aus der Diskussion sind folgende Punkte festzuhalten:
Die Türkei steht vor einer Schicksalswahl. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai werden den zukünftigen Kurs des Landes maßgeblich entscheiden, so die Einschätzung der Podiumsteilnehmenden. Dass jetzt alles auf dem Spiel stehe, sei das vorherrschende Gefühl in der Türkei – unabhängig, ob man mit Unterstützern oder Gegnern von Präsident Erdoğan spreche. Türkinnen und Türken haben erstmals seit zwanzig Jahren mit ihrer Stimmabgabe Einfluss auf die grundlegende politische Richtung des Landes.
Obwohl der Wahltermin sehr nah erscheint, beginnt der eigentliche Wahlkampf erst jetzt, drei Wochen vor Termin. Erst jetzt beginnen die großen Wahlkampfveranstaltungen und die Rundreisen der Kandidaten in der Türkei. Dieser Zeitraffer und der hohe Termindruck sei vor allem auf die Verzögerungen zurückzuführen, die durch das verheerende Erdbeben in der Südtürkei entstanden sind. Von daher ist der Ausgang der Wahl, die sich laut aktuellen Umfragen als ein Kopf-an-Kopf-Rennen abzeichnet, weiterhin offen und nur schwer zu schätzen. Trotz der schlechten Wirtschaftslage im Land und der Situation im Erdbebengebiet, die weiterhin dramatisch ist, hält sich Präsident Erdogan im Rennen und ist keinesfalls in den Umfragen abgeschlagen.
Neben dem kurzen Vorlauf wird die Unvorhersehbarkeit des Wahlausgangs zusätzlich durch drei weitere Aspekte erhöht – so die Diskutierenden: Erstens gäbe es laut Umfragen trotz der hohen Polarisierung des Wahlkampfs weiterhin eine große Zahl an Unentschlossenen, ca. 15-20 % der Wahlberechtigten, die sich noch unsicher sein, ob sie zur Wahl gehen bzw. welche Seite sie unterstützen sollen. Zweitens – die Rolle der Kurden und der kurdischen Partei HDP, die nicht offizieller Teil des Sechser-Oppositionsbündnis ist, mit diesem aber in einer informellen Allianzbeziehung steht. Wie sich diese Allianz während und nach der Wahl entfalten wird, sei derzeit noch nicht absehbar. Vermutlich wird die HDP die Rolle des Königmachers einnehmen – einer der Gründe, warum so viel Druck auf der Partei liege. Drittens die hohe Zahl an Erstwähler (in etwa 6,5 Millionen), die nach 20 Jahren AKP-Regierung keinen anderen Präsidenten als Erdogan kennen. Verlässliche Daten, über ihre zu erwartende Wahlbeteiligung liegen nicht vor. Es sei aber wahrscheinlich, dass junge Menschen – auch mit Blick auf die miserable Wirtschaftslage im Land und dem grundsätzlichen Fremdeln mit dem Politikstil der AKP – mehrheitlich gegen Erdogan votieren werden. Sehr viele in dieser Altersgruppe fühlen sich Europa zugehörig. Sollte die AKP die Wahl gewinnen, würde die anhaltende Abwanderung dieser Kohorte der türkischen Bevölkerung, die ohnehin schon stark ist, weiter anschwellen, so die Podiumsteilnehmenden.
Die hohe Unversehrbarkeit des Wahlkampfs gelte aber auch für alle Vorgänge und Eventualitäten, die nach der Auszählung und der eigentlichen Wahl stattfinden könnten. Dies betrifft insbesondere den Fall eines umfassenden Machtwechsels, wenn Erdogan sowie seine AKP die Wahlen deutlich verlieren sollte. Besondere Sorge bereite hier die vielen paramilitärischen Gruppierungen und Einheiten, die in den letzten Jahren in der Türkei entstanden sind und die sich eventuelle einer friedlichen power transition in den Weg stellen könnten.
Sollte Erdogan jedoch die Wahl gewinnen, würde die Türkei – die ohnehin schon sehr autoritär regiert wird – in schnellen Schritten zu einem diktatorischen System werden, so die einhellige Einschätzung der Panelist*innen. Aber auch wenn das Sechser-Bündnis unter dem CHP-Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu die Wahl gewinnen sollte, würde die Türkei nicht über Nacht zu einer lupenreinen Demokratie werden. In puncto Menschenrechte und Pressefreiheit sei jedoch eine deutliche Entspannung zu erwarten, so die Podiumsteilnehmenden. Unter anderem könne in diesem Fall mit der zügigen Freilassung des Unternehmers, Kunstmäzens und Menschenrechtsaktivisten Osman Kaval gerechnet werden, der nach einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Auch würden die Beziehungen zwischen der Türkei mit den USA und der Europäischen Union sicherlich eine deutliche atmosphärische Aufhellung erfahren. Vermutlich würde auch die neo-osmanische Ausrichtung der türkischen Außenpolitik, die unter Erdogan initiiert wurde und eine deutliche Abkehr von Europa markiert, abgeschwächt oder sogar zurückgenommen werden. Viele der zentralen Konfliktfelder in den EU-Türkei-Beziehungen – Syrien, Libyen, Zypern, Rüstungsaktivitäten, Beziehungen zu Moskau, etc. – dürften aber auch mit einer neuen Regierung weiterbestehen. Hier sei an vielen Stellen, trotz aller Akzentverschiebungen, Kontinuität zu erwarten. In den EU-Türkei Beziehungen auf eine umfassende Entspannung zu hoffen, wäre vermutlich fehlgeleitet, so die Einschätzung der Diskutanten.
Auch wenn vieles zum Wahlvorgang noch unvorhersehbar ist, so sei schon jetzt klar, dass der Wahlkampf auf jeden Fall unfair verlaufen werde. Die Startbedingungen zwischen der Regierungspartei und dem oppositionellen Bündnis seien einfach nicht gleich. Besonders deutlich würde dies an den medialen Zugängen. So seien 90% der privaten Medienunternehmen entweder direkt im Besitz der Familie Erdogan oder sehr eng mit der AKP und dem Präsidenten verbunden. Zwar könnten oppositionellen Stimmen auf soziale Medien ausweichen. Hier sei es aber noch nicht ausgemacht, ob es eventuell zu Einschränkungen komme. Die zeitweise Abschaltung des Kurznachrichtendienstes Twitter unmittelbar nach dem Erdbeben Anfang Februar 2023 zeige, dass das Besteck der Internet-Zensur bereits auf dem Tisch läge, so die Diskutanten.
Neben den unfairen Ausgangsbedingungen könne es zudem zu verschiedenen Formen von Wahlbetrug kommen. Die Opposition sei in diesem Zusammenhang besonders nervös, dass weiterhin kein offizielle Vermisstenliste zu den Erdbebenopfern vorläge. Hier könnte sich eventuell ein Einfalltor für Manipulationen der Stimmergebnisse ergeben. Sollte es zu einem knappen Wahlausgang kommen, könnten sich zudem ähnliche Vorgänge abspielen, wie bei den türkischen Regionalwahl 2019. Damals verlor die AKP drei große Städte – insbesondere Istanbul – an die Opposition. Daraufhin wurde mit fadenscheinigen Argumenten eine Neuwahl erzwungen – die die AKP allerdings erneut gegen die Opposition verlor.
Erdogan, so die Diskutanten, habe durchaus Wahlkampfauftritte in Europa – und eben auch in Deutschland geplant – diese seien jedoch durch das Erdbeben und die daraus resultierenden Änderung im politischen Kalender ausgefallen. Auf niedriger Ebene fände aber durchaus Wahlkampf in Deutschland statt – sowohl durch das Oppositionsbündnis als auch durch AKP-Akteure. Moscheen und Moscheevereine seien hier besonders wichtige Orte.
In diesem Zusammenhang wurde betont, dass die Stimme der türkischen Diaspora hier in Deutschland bei der Wahl durchaus eine wichtige Rolle spiele und den Ausgang mitbestimmen könne. Von insgesamt 3 Millionen türkischstämmigen Deutschen seien immerhin 1,5 Millionen wahlberechtig. Bei der letzten Wahl habe die Beteiligung mit 45% sehr niedrig gelegen. Damals haben 64% für Erdogan gestimmt. Wenn dieses Mal die Wahlbeteiligung höher liegen sollte – wovon die Podiumsteilnehmenden ausgingen – könne das Ergebnis durchaus anders ausfallen.
Angesichts der schicksalhaften Bedeutung der Wahl und der Rolle Deutschlands, sei auffällig, dass auch in dieser aktuell kritischen Phase der langfristig rückläufige Trend in der Türkeiberichterstattung konstant bleibe. Insgesamt sei nämlich zu beobachten, dass die Anzahl der Medienbeiträge über die Türkei in den letzten fünf Jahren rückgängig sei.
Rehburg-Loccum, den 27. April 2023, Studienleiter Dr. Thomas Müller-Färber