Merkwürdig, beim Durchstreifen einschlägiger Lexikonartikel zu den Stichworten Neid und Missgunst fällt die Ausbeute im Blick auf die evangelische Theologie ausgesprochen mau aus. Was da geschrieben steht, ebbt in der Berichterstattung mit der Aufklärungszeit ab. Danach wird es philosophisch oder römisch-katholisch. Woran liegt das? Gibt es keinen Neid in der evangelischen Kirche? Oder spielt er – auch gesamtgesellschaftlich für sie keine Rolle? Ich fürchte nein. Und ich rege an, dass sich die evangelische Theologie und Kirche diesem Thema beherzt annehmen. Lasst uns für einen Abschied von Missgunst werben, in den eigenen Reihen der Kirche, in der Gesellschaft. Neid vergiftet das soziale Klima.
Was ich damit meine? Es gab gleich zu Beginn der Corona-Impfungen neue Spannungen – über die Organisation der Impfpriorisierungen in den inzwischen allseits bekannten Großgruppen hinaus. Diskutiert wurde bereits, bevor es überhaupt losging, schon im Dezember 2020, ob Menschen, die in Wohnstifts und Pflegeheimen leben und geimpft seien, wieder größere Freiheiten genießen dürften? Das wurde kritisch gesehen, und das nicht nur wegen der Unsicherheit, ob Geimpfte noch ansteckend wirken. Originelle Modelle, geimpften alten Menschen gastronomisch das ein oder andere anzubieten und zu eröffnen, hatten keine Chance sich durchzusetzen oder gar Schule zu machen. Der Ruf: „Gebt geimpften hochaltrigen Menschen mit einer nur noch kurzen Lebensphase Lebensfreiräume zurück, früher als anderen!“ drang nicht durch. Maßgeblich war ein kleinmütiger Begriff von Gerechtigkeit. Ich frage mich: Was ist daran gerecht, wenn es möglichst allen Menschen möglichst gleich miserabel geht? Dann wäre ja auch die Hölle ein Ort größtmöglicher Gerechtigkeit. Auch in der Kirche wurde hitzig diskutiert, ob – und das war mit triftigen medizinischen Gründen gefordert worden – Notfallseelsorger*innen vorrangig und vorzeitig geimpft werden sollten. Ja, wenn wir das machen, hieß es dann, müssen aber gleich alle Pfarrerinnen und Pfarrer geimpft werden, sonst sei das nämlich ungerecht. In Wirklichkeit war Neid unterwegs, Neid auf Menschen, die ein Amt in der Kirche übernommen haben, das sonst nicht gerade als Tätigkeitsmagnet gilt: Notfallseelsorger*in zu sein.
Ich fürchte, dass das weiter geht. Fragen über Fragen, was oder ob Geimpfte anderes und mehr dürfen, ob es wieder Kulturangebote, Konzertangebote, Chöre der Geimpften geben dürfe, die früher als andere Singen? Und ich ahne schon, dass da im Namen der Gerechtigkeit gewarnt wird. Lieber nicht. Denn wieder wird nicht nur Angst und Sorge, sondern auch Neid dabei unterwegs sein. So, wie dieser Tage auch mit der Frage, warum die, die in den Brennpunktquartieren die Zahlen in die Höhe jagen, vorzeitig geimpft werden sollen, um die Inzidenzwerte nach unten zu drücken. Da werden doch diejenigen durch Impfung belohnt, die sich nicht ordentlich verhalten haben, heißt es da. Erstens: Die? Zweitens: Alle? Die meisten können sich nicht aussuchen, in einem Hochhaus mit 1,5qm-Aufzügen beherbergt zu sein. Wieder ist Neid und das Schreckgespenst einer missgünstigen Ungerechtigkeit unterwegs. – Jemand hat etwas, kann etwas, vermag etwas, darf etwas, was ich eigentlich auch könnte, dürfte, meine haben zu sollen. Erreichbares. Das ist die Gestalt des Neids, in die sich alsbald Hass einschleicht.
Ist dagegen ein soziales, ein gar christliches Kraut gewachsen?
Wie ist das eigentlich mit Gott?
Einst waren die Götter neidisch. Die griechischen Megären waren die personifizierte Form der Missgunst. Und die griechischen Dichter Pindar und Aischylos deuteten den Neid der Götter als Korrektur, um der Sterblichen ungetrübtes Glück im Übermaß den Garaus zu machen. Das war aber eben zur Zeiten des antiken Götterhimmels. Und der war ein trostloser Himmel. Trost war der griechischen Götter Sache nicht. Aber eben Neid. Und dieser Neid hatte eine menschliche Entsprechung, der sog. Ostrakismus, das Scherbengericht zu Athen. Im Namen eines gleichmacherischen-demokratischer Neides als Steuerungskraft der Stadtgesellschaft wurden Scherbenberichte abgehalten. Es hat Athen seine Existenz gerettet, dass es alsbald wieder davon Abstand nahm. Denn die Stadt merkte: Neid als politisches Regulativ wirkt schon in einer relativ übersichtlichen Stadtgesellschaft destruktiv. Er wirkt in einer Gesellschaft der Gleichen, die notwendig nicht in jeder Beziehung gleich sein können, zerstörerisch. Demokrit sah das haarscharf: Neid ist Ursache von Bürgerkriegen. Neid ist Kennzeichen von Tyrannen, sagte er. Zentrale Aufgabe des Staates sei, so meinte dann auch Aristoteles, den Neid aus der Polis zu verbannen. Das Schlimme am Neid sei, dass er gar nicht darauf aus sei, in die Vorzüge des anderen zu kommen. Er wolle nur erreichen, dass die andere Person diese Vorzüge auch nicht genießt. Vor allem aber: Niemand, so Aristoteles, beneiden Menschen stärker als die, mit denen sie bekannt sind, die Landsleute.
Das ist brandaktuell. Soll denn im Ernst das Unglück der anderen, die Trostlosigkeit ihrer Lebenslage mir selbst zum Trost gereichen? Gilt es wieder an Friedrich Nietzsche zu erinnern, der gegen das innereuropäische, das soziale Ressentiment in Deutschland anging und schrieb: „Weil ich etwas nicht haben kann, soll alle Welt nichts haben! Soll alle Welt nichts sein!“ Soll also im Ernst der Macht des Virus, dort, wo sie schon gebrochen ist, im Namen der Gerechtigkeit der Vorrang eingeräumt werden?
Nocheinmal: Wie ist das eigentlich mit Gott, mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Abrahams, dem Gott, in dessen Namen sich Jesus von Nazareth aufmachte?
Dieser Gott ist nicht neidisch. Seit Kain und Abel, der wohl mächtigsten Neidgeschichte der Bibel, tritt er gegen den Neid auf den Plan. So einer wie Paulus wusste das: „Neid zerstört, Liebe baut auf“. (Gal 5,21-26). Liebe, so die Einsicht hilft Menschen auf, über ihren Kummer über den Erfolg der Nächsten hinwegzukommen.
Liebe hilft aus der erbärmlichen ethischen und sozialen Lage heraus, in der erst an Grundrechte appelliert werden muss, um nicht länger Schmerz darüber zu empfinden, worüber wir alle uns freuen sollten, über das Gut des Nächsten. Das ist ein starker Hinweis auch für Loccum.
Ich bin neugierig darauf, wie die Evangelische Akademie Loccum in Zukunft in jedem Fall auch ein Ort sein wird, an dem Missgunst beim Namen genannt und Perspektiven der Neidüberwindung durchbuchstabiert werden. So habe ich die Akademie in den vergangenen elf Jahren jedenfalls erlebt: Als einen Ort gesellschaftspolitisch arrangierter und in der Art des Umgangs praktizierter Nächstenliebe. Nächstenliebe einmal ganz weltläufig unaufdringlich. Nächstenliebe macht sich ja nichts vor. Sie schaut hin und sieht – neben den eigenen auch die Abgründe beim anderen. Aber eins kann Nächstenliebe wie kaum eine andere: sich an der Freude der anderen vorbehaltlos zu freuen. Wo immer ich das in den schärfsten Debatten, den bittersten Einblicken in Krisenlagen, bei Aufbrüchen zu neuen Ufern hier in Loccum erlebt habe, wusste ich: Es ist gut hier zu sein. Mit Dankbarkeit, reich beschenkt mit neuen Perspektiven, so vielen kostbaren Begegnungen bis in die tiefe Nacht hinein, mit meinem großen Dank also an alle, die während der Jahre hier aus und eingegangen sind, mitgefiebert haben, mitgestaltet haben, mache ich mich auf den Weg nach Lüneburg. Gott befohlen, liebe Evangelische Akademie Loccum!
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.