Ich mache in den Corona-Zeiten noch eine zweite literarische Erfahrung, die vage Ideen für eine Tagung zu Literatur oder besser noch für das gesamte kulturpolitische Feld, die ich in der Vergangenheit immer wieder mal hatte, wieder aufkommen lässt. Ich begeistere mich in diesen Tagen für die Texte von Gabriele Tergit, und lese außerdem Romane von Vicki Baum und von Irmgard Keun. Literarisch befinden wir uns also in der Spätzeit der Weimarer Republik, 1932 erschienen der Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (Gabriele Tergit), 1931 „Gilgi, eine von uns“ (Irmgard Keun) und kurz zuvor 1929 „Menschen im Hotel“ (Vicki Baum). Obwohl ich mich auf literarischem Gebiet für einigermaßen bewandert halte, gestehe ich, dass ich vielleicht die Namen dieser drei Autorinnen schon einmal gehört hatte, die Titel mir jedoch kein Begriff waren. Ein kurzer Blick in einschlägige Literaturgeschichten zeigt mir, welche Werke aus jenen Jahren in den literarischen Kanon eingegangen sind, und das sind gewichtige Titel. Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“ ist dabei, Erich Kästners „Fabian“, Joseph Roths „Radetzkymarsch“ oder Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“ Dazu kommen Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, und natürlich spuken die Namen Thomas Mann und Franz Kafka durch die Gegend. Aber eins ist auffällig: das sind alles Männer. Und alle gelten als große Weltliteratur. Meine Autorinnen sind nun aber allesamt Frauen – und sie sind, wenn man mal ehrlich ist, nicht so richtig bekannt. Nun sagt mir aber mein literarisches Gespür: An der Literatur liegt es nicht, denn die reiht sich nahtlos in die Liste der genannten Werke ein – was ich lese, kann mit dem mir Bekannten locker mithalten.
Erst in jüngster Zeit ist wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die drei Autorinnen zu konstatieren, deren Werke alle in den letzten Jahren neu aufgelegt wurden. In ihrer Gegenwart waren die Romane große Erfolge und hatten eine breite Leserschaft. Warum also, finden sich die Namen dieser Autorinnen in den Jahrzehnten dazwischen nicht im Kanon etablierten Autoren, wo sie hingehören? Zwei Erklärungsversuche: Gabriele Tergit und Vicki Baum sind als Jüdinnen früh emigriert. Vicky Baum hat die Verfilmung ihres Romans ein Leben in Hollywood ermöglicht. Sie blieb dort, veröffentlichte in der Nachkriegszeit auf Englisch. Auch Tergit fand nicht so recht den Weg zurück in die Bundesrepublikanische Nachkriegsöffentlichkeit und lebte nach zahlreichen Stationen des Exils ab 1938 in London, wo sie 1982 starb. Ihr großer Roman „Effingers“, die Geschichte zweier jüdischer Familien in Berlin, stieß in den 50er-Jahren auf kein großes Interesse – die junge bundesdeutsche Gesellschaft war mitunter der Vergangenheitsbewältigung weniger aufgeschlossen als oft angenommen. Beide, Tergit und Baum, ereilte somit ein ähnliches Schicksal wie beispielsweise Marlene Dietrich, die auch erst spät wieder zu Anerkennung gelangte.
Noch wichtiger erscheint mir jedoch die banale Vermutung, dass sie lange Zeit als Frauen in einer männlich dominierten Welt der Feuilletons und Geisteswissenschaften ignoriert wurden. 1978 begann die „Zeit“ eine Serie, in der sie die „wichtigsten 100 Bücher“ vorstellte und damit einen Kanon vorschlug. Bei den vorgestellten Autoren handelte es sich um 99 Männer und um Anna Seghers. Nun könnte man annehmen, dass in der Vergangenheit vor allem eben männliche Autoren tradiert wurden (die Liste beginnt in der Antike), dies sich aber in Zukunft ändern würde. Allerdings waren unter den Rezensenten der Liste auch nur 5 Frauen. Männer schreiben also männliche Literaturgeschichte.
In jüngster Zeit gab es einige kulturpolitische Debatten um geschlechterparitätische Besetzung von Jurys, von Quoten in Verlagsprogrammen, in der Auswahl von Wettbewerben. So etwa bei der Auswahl zum Berliner Theatertreffen (wegen Corona in diesem Jahr nur virtuell) und bei der zum Glück noch in Vor-Corona stattgefundenen Berlinale (für die Filmindustrie ist das durch die #MeToo-Debatte ein besonders brisantes Thema) – die Diskussion wird aber auch immer wieder in Hinblick auf die Verlagsprogramme geführt. Meine Corona-Lektüre bestärkt mich in dem Projekt, die Geschlechterfrage auf die kulturpolitische Agenda in Loccum zu setzen.
Einige Berliner Bezirke haben es sich übrigens zum Ziel gesetzt, bei der Benennung von Straßen möglichst weibliche Personen zu ehren. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 90% der in Deutschland nach Personen benannten Straßen männliche Namen führen – auch das trägt zur Kanonisierung bei. Eine wichtige neue Straße in Berlin, vom Potsdamer Platz ausgehend, heißt seit einigen Jahren „Gabriele-Tergit-Promenade“, eine weitere neue Straße in Berlin-Lichtenberg „Vicki-Baum-Straße“. Das ist immerhin ein Anfang.
Corona-Lektüreliste:
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co. 2016 (zuerst Berlin: Rowohlt 1932).
Gabriele Tergit: Effingers. Frankfurt a.M.: Schöffling & Co., 2019 (zuerst Hamburg: Hammerich & Lesser 1951).
Vicki Baum: Menschen im Hotel. Kiepenheuer & Witsch 2007 (zuerst Berlin: Ullstein 1929).
Irmgard Keun: Gilgi, eine von uns. Berlin: Ullstein 2018 (zuerst Berlin: DVA Universitas 1931).
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.