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Die Corona-Krise und die europäische Flüchtlingspolitik

Ein Beitrag von Studienleiterin Jordanka Telbizova-Sack

In Zeiten einer Pandemie ist Solidarität so wichtig wie nie und dafür gibt es aktuell viele Beispiele. Gilt diese Solidarität für alle? Zurzeit harren in und um die Camps der griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos mehr als 39.000 Migranten unter widrigen Bedingungen aus. Die Lage in den völlig überfüllten Flüchtlingslagern ist katastrophal. Die Hygiene ist schlecht, Abstand halten unmöglich. Es gibt kaum medizinische Versorgung. Wenn sich das Coronavirus dort ausbreitet, droht eine humanitäre Katastrophe.

Mehrere EU-Staaten haben sich nach mühsamen Verhandlungen bereiterklärt, einige minderjährige und unbegleitete Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Eine Gruppe von 42  Jugendlichen und fünf Minderjährigen traf am Samstag in Hannover ein. Einige Tage vorher wurden zwölf weitere Minderjährige nach Luxemburg ausgeflogen. Wegen der Corona-Krise haben die meisten Länder das Hilfsprogramm jedoch erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben.

Den Jugendlichen, die nach Deutschland und Luxemburg kamen, wurde geholfen. Aber was ist mit den anderen? Es gibt mindestens 2.000 Flüchtlingskinder, die noch auf Lesbos, auf Chios und Samos und den anderen Inseln leben. Von den Erwachsenen gar nicht zu sprechen. Können sie vor dem  Virus geschützt werden? Hilfsorganisationen und auch der Innenausschuss des EU-Parlaments warnen vor einer Zuspitzung der humanitären Notlage und fordern, dass die fast 40.000 Migranten und Asylsuchenden aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufs Festland gebracht werden sollen. Die griechischen Behörden haben bereits zwei Flüchtlingslager wegen eines Coronavirus-Falles unter Quarantäne gestellt. Auf der griechischen Insel Chios kam es wegen der Angst vor weiteren Corona-Ausbrüchen zu Ausschreitungen.

In Deutschland waren etliche Städte bei den Verhandlungen um die Aufnahme von Flüchtlingskindern durchaus bereit, Minderjährige von den griechischen Inseln aufzunehmen. Das deutet auf eine starke Zivilgesellschaft, die den Schwachen helfen will. Berlin wollte z.B. in Eigenregie bis zu 1.500 Flüchtlinge aus dem Camp Moria holen. Inzwischen hat die Politik der „kalten Herzen“ aber auch die große Koalition in Berlin infiziert.

Die aktuelle Krise macht aber zugleich einen Trend deutlich, der sich schon vor dem Coronavirus abzeichnete: Für Menschen, die in Europa Asyl suchen wollen, wird die Lage immer schwieriger. Das Coronavirus gibt Politikern in verschiedenen Ländern ein starkes Argument, Migranten und Flüchtlinge an ihren Grenzen abzuweisen und sie so daran zu hindern, überhaupt nach Europa zu kommen. Italien, Malta und Spanien haben ihre Häfen für Flüchtlinge geschlossen. Sie seien keine sicheren Orte mehr, hieß es in den Regierungsdekreten. Und seitdem das Flüchtlingswerk der UN (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) ihre Resettlement-Programme aufgrund der COVID-19-Pandemie vorübergehend ausgesetzt haben, müssen selbst die Schwächsten und die Verwundbarsten vor den Toren Europas warten.

Die europäischen Gesellschaften sollten sich eingestehen, dass sie das Asylrecht faktisch heute schon kontingentieren. Grenzschutz ist das Wort der Stunde. Wir erleben das Versagen Europas, mit der Situation von Flüchtlingen und Schutzsuchenden angemessen umzugehen. Der EU-Türkei-Deal war ein Versuch, Zeit zu gewinnen. Die EU hat es nicht geschafft, die erkaufte Zeit zu nutzen, um eine eigene vernünftige Asylpolitik auf die Beine zu stellen.

Die Europäische Gemeinschaft benötigt dringend Instrumente der Solidarität und einen verbindlichen Mechanismus für die faire Verteilung der Menschen. Dahinter verbirgt sich die viel größere Frage nach der Reform des europäischen Asylsystems. Eine solche Reform kommt aber in der EU seit Jahren kaum voran. Vor allem die Frage der Umverteilung ist umstritten. Nach dem bislang geltenden Dublin-System ist meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Deshalb sind Staaten an den Außengrenzen wie Griechenland, Italien und Spanien besonders belastet. Sie fordern von der EU mehr Unterstützung. Ungarn, Polen, Österreich und andere lehnen eine verpflichtende Aufnahme von Migranten ab.

Immerhin gibt es Hinweise, dass die Europäische Kommission einen Neustart der europäischen Asylpolitik anstrebt. Die Kommission arbeitet zurzeit an einem Konzept, es bleibt allerdings offen, wann es präsentiert werden kann. Wegen der Corona-Krise kommt es zu weiteren  Verzögerungen.

Die Evangelische Akademie Loccum setzt einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Migration, Asyl und Flucht in all seinen Facetten. Die Debatte um europäische Flüchtlings- und Grenzpolitik war auch Gegenstand einer für Mitte April geplanten Tagung, die wegen der Corona-Pandemie leider aufgeschoben werden musste.

In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.

Dr. habil. Jordanka Telbizova-Sack ist Studienleiterin für Religion und Politik in der Migrationsgesellschaft