„Ich gehe ja nicht so oft in die Kirche – glauben kann ich ja auch so“, oder: „ich bin aus der Kirche ausgetreten, für meinen Glauben brauche ich die nicht“. Als Gemeindepastor sind mir solche Äußerungen begegnet, und ich habe immer darauf geantwortet: „Ich denke, dass zum christlichen Glauben die Gemeinschaft dazugehört. Und die fehlt doch dann, oder nicht?“ Dann haben wir geredet und diskutiert über die Gemeinschaft des Glaubens, mit offenem Ausgang.
Diese Diskussionen sind gerade nötiger denn je. Denn plötzlich sind ja – durch äußere Umstände bedingt – jene, die auf die Individualität des Glaubens verweisen, im Vorteil, während sich mein Gemeinschaftsargument in Luft aufzulösen scheint. Die Kirchentüren sind verschlossen, die Gemeindehäuser auch. Alles, was wir herkömmlicherweise in der Kirche an gemeinschaftlichen Events begehen, gibt es gerade nicht. Die Gemeinschaft aber, die gibt es trotzdem. „Wer glaubt, steht in der geschichtlichen Gemeinschaft des Glaubens“ (Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, 331), das gilt unabhängig davon, ob diese Events stattfinden oder nicht.
Die Herausforderung besteht darin, die Gemeinschaft aufzuzeigen, wenn sie, wie aktuell, nicht sichtbar oder vielleicht anders sichtbar ist. „Die Gottesdienste in den letzten Wochen sind nicht ausgefallen“, schrieb eine Freundin vor kurzem auf Facebook und verwies auf die unzähligen digitalen Gottesdienstformate, von denen wir bis vor kurzem noch dachten, es könne sie nie geben. Dass es ähnliche Diskussionen bei den ersten Fernsehgottesdiensten gegeben haben wird, sei nur nebenbei erwähnt. Entscheidend und bemerkenswert ist an all diesen aufgezeichneten und gestreamten Andachten, Gebeten, Gottesdiensten, dass sich da eine Gemeinde vor den Bildschirmen versammelt, die sich nicht sieht – aber durchaus verbunden weiß als Gemeinschaft. Anders sind die Kommentare unter den Streams nicht zu erklären. Sichtbar wird diese Gemeinschaft nicht in personalen Kontakten, dafür aber in den spontan dagelassenen Gefallensäußerungen.
Theologisch dürfte das entscheidende Schlagwort hier schnell gefunden sein: das wirkt der Geist! – ohne, dass damit viel ausgesagt wäre. Geister gibt es viele, sie alle sind nach biblischem Befund zu prüfen: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind“ (1Joh 4,1). Der ganz allgemeine Gemeinschaftsgeist, oft beschworen, dürfte in dieser Hinsicht nicht immer unproblematisch sein (es gibt ja auch einen Corpsgeist: Prüft die Geister!). Ohnehin ist bei der Einspielung des Geist-Themas Luthers Beharren darauf, dass der ‚Heilige Geist‘ nicht ohne das Wort (Gottes) zu haben ist, zu erinnern. Das ins Positive gewendet lautet dann wohl: nur wenn das Wort Gottes verkündigt wird (per Brief, Aushang, Stream, Podcast, TV, Radio etc.) und gelesen, gehört, vernommen wird, dann ereignet sich im Geist Gottes eine Verbindung derer, die reden, hören, lesen, schauen, schreiben. Nur dann. Aber dann verlässlich.
Darum ist es richtig, das Wort umzudrehen: Geistgemeinschaft statt Gemeinschaftsgeist. Im November findet an der Evangelischen Akademie eine Dietrich-Bonhoeffer-Tagung statt. Bonhoeffer hat der ‚Geistgemeinschaft‘ das längste Kapitel seiner Doktorarbeit gewidmet. „Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche“ heißt das Buch, und wie es dem ganzen Buch um die soziologische Gestalt der Kirche geht, geht es auch in der Geistgemeinschaft um eine „konkrete Gemeinschaftsform“ (115). Im Geist und durch den Geist sind die Glaubenden verbunden untereinander und mit Gott. Und in der Vorlesung über das Wesen der Kirche von 1932 betont Bonhoeffer: Es ist Gott, der der Kirche ihren Ort zuweist und durch seine Geist-Gegenwart die Gemeinschaft herstellt, wo auch immer. Nicht zuletzt hebt er in seinen späten Briefen aus der Haft immer wieder die enge Verbundenheit im Glauben mit denen, bei denen er nicht ist, hervor.
Über Gemeinschaft wird jetzt und in Zukunft zu diskutieren sein. Es könnte sein, dass unsere hergebrachten Gemeinschaftsbegriffe zu überdenken sind. Dass sie theologisch als Geistgemeinschaft zu deuten ist, dürfte unstrittig sein. Wie das genau zu verstehen ist und was das für die konkreten Gemeinschaftsformen bedeutet, dazu lässt sich vielleicht bei Bonhoeffer lernen. Und ganz gewiss lässt sich dazu auch etwas aus der gelebten und geglaubten Gemeinschaft unter den Bedingungen des social distancing lernen.
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.