Mich erreichen zur Zeit regelmäßig E-Mails mit dem Hinweis ‚neuer Termin‘ für Veranstaltungen, deren alte Termine längst festlagen, aber dem Corona-Virus zum Opfer fallen. Auch an der Loccumer Akademie werden gerade zahlreiche Veranstaltungen verschoben. Das ist jedes einzelne Mal eine schwere Entscheidung, nicht selten aufgeschoben bis zum letzten Moment, aber dann doch: neuer Termin!
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ sagt der Volksmund, der wie so oft nur teilweise recht hat. Denn mit dem Aufschub ist die Veranstaltung ja gerade doch aufgehoben – gehoben gewissermaßen in einen höheren Zustand, einen Schwebezustand mit offenem Beginn und offenerem Ende. Dieser Schwebezustand interessiert mich, denn meine Vermutung ist: (nicht nur) theologisch ist der Aufschub ein höchst produktiver Vorgang. Es ist natürlich so, dass, wer über den Aufschub schreibt, immer zum falschen Zeitpunkt schreibt. Einerseits ist der Anfang lange verpasst. Andererseits liegt der Anfang noch vor uns, ist unter Umständen noch gar nicht bekannt (‚der Termin wird noch bekannt gegeben‘). Und dennoch: der Aufschub interessiert mich, als Corona-Thema, und darum ein paar Bemerkungen zum falschen Zeitpunkt. Unzeitgemäße Betrachtungen, gewissermaßen, aus aktuellem Anlass.
Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930-2004), dessen ganzes Schreiben als eine „Rhetorik des Aufschubs“ bezeichnet wurde, hat in seinem lebenslangen Ringen um den ‚Anfang‘ unter anderem den Begriff des Entwurfs (wohlbekanntes Stadium der Veranstaltungsplanung) eigentümlich interpretiert. Der Ent-wurf (das Pro-jekt) ist das Immer-wieder-Anfangen im Aufschub: sowohl Wurf als Werfen, stabil und instabil. Ist ein Anfang gesetzt, steht dieser fest, aber zugleich entwirft er sich in seinen eigenen Aufschub hinein: mit offenem Ausgang, nicht auf ein Ende angewiesen, das ihn aber zugleich anzieht. In dieser Dynamik: ein Pro-jekt ent-werfen. Aufgabe dieser Tage wie aller Tage, unter erschwerten, aufschiebenden (den Aufschub potenzierenden) Bedingungen.
Zu den wirklich bemerkenswerten Umständen der Entstehung des Christentums gehört, dass sich seine ganze Geschichte im Prinzip einem Aufschub verdankt bzw. sich in einem Aufschub entfaltet. Die allerersten Christ*innen rechneten in großer zeitlicher Nähe mit der Wiederkunft des auferstandenen Christus „zu richten die Lebenden und die Toten“. Die Geschichte gewinnt ihre Dynamik dadurch, dass genau das nicht geschieht. Bis heute bekennt die Christ*innenheit diese Erwartung: „von dort wird er kommen…“ – jedoch dürfte die reale Erwartung sich umgekehrt haben. Bestand vor 2000 Jahren die Überraschung darin, dass dies nicht geschah, so bestünde sie heute darin, wenn genau dies jetzt geschähe. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben? – Doch, und zwar aufgehoben aus dem Status einer konkreten Naherwartung hinaus in den Status eines unbestimmten, völlig offenen Zielpunktes. So entsteht eine Geschichte (und was für eine!), die auf dieses Ende nicht angewiesen ist, von ihm aber zugleich angezogen wird.
Was ist das Thema? – Das Zeitgeschehen aus einer theologischen Perspektive heraus zu beobachten und zu kommentieren. „Wir haben uns darauf geeinigt, darüber in den nächsten Wochen noch einmal zu beraten“. Wenn das so ist, dann entsteht durch Aufschub ein Dazwischen. Es ist nicht auf ein Ende angewiesen – und doch ist es von diesem, den neuerlichen Beratungen, angezogen. Aber ‚jetzt‘ geht es um nichts anderes als um das ‚Dazwischen‘. Darin liegt unsere Aufgabe.
Ein Ende dieser unzeitgemäßen Betrachtungen gibt es nicht.
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.