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Virus macht Sprache

Ein Beitrag von Studienleiter Christian Brouwer

Asterix in Italien: Ein Funfact zu Beginn. Ein langes Wagenrennen steht im Mittelpunkt des 2017 erschienen Comics „Asterix in Italien“. Der von Caesar für die Römer ins Rennen geschickte Wagenlenker, der in der deutschen Übersetzung des Bandes den Namen Caligarius trägt, heißt im französischen Original – tatsächlich! – Coronavirus. In der Übersetzung habe man den Namen verändert, denn Virus sei im deutschen zu bedrohlich. Das Argument dürfte an Schlagkraft gewonnen haben, indem nun auch die Bedrohung des ersten Namensteils auf der Hand liegt. Ich bin gespannt, ob der Wagenlenker in künftigen französischen Auflagen seinen Namen behalten darf.

Es ist ein Gemeinplatz, dass Sprache Wirklichkeit schafft und verändert. Die Theorie der Sprechakte, die im Kern feststellt, dass Sprechen auch ein Handeln ist, bringt das auf den Punkt. Wenn ich einer anderen Person etwas verspreche, dann schaffe ich damit eine Realität. Nun ist es aber umgekehrt auch so, dass die Wirklichkeit unsere Sprache verändert. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ hat Wittgenstein (PU §43) festgestellt, und so liegt es nahe, den Sprachgebrauch zu beobachten, um etwas über unsere Zeit zu erfahren. Das neuartige Corona-Virus macht etwas mit unserer Sprache. Und an dieser veränderten Sprache lässt sich etwas über die seltsame Gegenwart lernen.

Beispiele dafür gibt es viele. Drei davon sind mir besonders im Gedächtnis geblieben, sie alle betreffen unmittelbar den Arbeitsbereich Theologie und Ethik, das erste Beispiel sogar das nächstliegende Tagungsprojekt. „Gut leben im Alter“ heißt diese Tagung, die (eigentlich) im Juni stattfinden soll. Alle Debatten, die in den vergangenen Jahren über ‚das Alter‘ geführt wurden, begannen mit dem Hinweis, dass es ‚das Alter‘ nicht mehr gebe: die Lebensentwürfe haben sich ausdifferenziert, zu unterschiedlich die Interessenlagen und Pläne der Älteren, als dass man sie alle zusammenfassen könnte. Die ‚jungen Alten‘ sind so richtig alt ja noch gar nicht, sie sind aktiv, haben digital dazugelernt, individualisiert. All diese Dinge sind zu lesen. Nun kommt das Virus und macht alle Differenzierungen zunichte durch ein Wort: Risikogruppe. Plötzlich gehören doch wieder alle zusammen, die die sechzig (oder vielleicht sogar die 50) überschritten haben. Und während sich oft auch die 75-jährigen gegen den Begriff der ‚Alten‘ sträuben, können sie sich gegenwärtig gegen die ‚Risikogruppe‘ nicht wehren. Sie gehören dazu, ob sie nun wollen oder nicht. Wie der Sprachgebrauch das Bewusstsein verändert, kann man an den entsetzten und enttäuschten Reaktionen derer beobachten, denen man bestimmte Handlungen mit dem Hinweis darauf, sie gehörten zur Risikogruppe, untersagt. Risikogruppe – in dem Wort schwingt Angst mit, die über die konkrete Angst vor einer Ansteckung hinausreicht. Wo es Risikogruppen in einer in solchem Umfang gibt, da ist die Angst die Triebfeder einer ganzen Gesellschaft.

Das zweite Beispiel. In den Debatten über mögliche Lockerungen der Beschränkungen habe ich als ein Argument gegen bestimmte Lockerungen immer wieder gehört, dass die entsprechende Maßnahme nicht kontrollierbar sei. Nun hat es mir ganz persönlich noch nie eingeleuchtet, dass zusätzliche Kontrolle (also etwa: erhöhte Polizeipräsenz im öffentlichen Raum) eine positive Entwicklung sei. Aber die Bedeutung von ‚Kontrolle‘ des gesellschaftlichen Lebens hat in den letzten Wochen ein für mich bisher unvorstellbares Maß erreicht. Dass die Kontrollierbarkeit ein schlagkräftiges Argument für die Gesellschaft betreffende Maßnahmen ist, zeigt, wie sehr wir gerade in einer besonderen Situation leben. Dass Kontrolle zum allgegenwärtigen Alltagswortschatz geworden ist, sagt etwas über den Stand unserer Freiheit.

Und schließlich: gerade habe ich mich damit getröstet, dass wir es hier mit Ausnahmesituationen zu tun haben, da lese ich von einer „neuen Normalität“, an die wir uns gewöhnen müssten. Da wird die ganze Wucht der Sprache noch einmal deutlich. Abgesehen davon, dass die Frage nach dem Normalen immer strittig ist (vgl. Tagung in Loccum Was ist eigentlich normal?), wird durch die Verwendung dieses Ausdrucks ganz bewusst etwas in der Wirklichkeit auf Dauer gestellt. Es scheint so: das Virus lässt uns etwas ‚normal‘ nennen, was bis vor kurzem nicht vorstellbar war. Virus macht Sprache. Aber auch: die Sprache bestimmt das Bewusstsein. Sollte mit der Bezeichnung als ‚Normalität‘ so etwas wie Beruhigung erzeugt werden, wird dieses Ziel gründlich verfehlt. Wenn das, was ist, normal ist, dann ist Angst normal. Und das ist beängstigend.

In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.

 

Dr. Christian Brouwer ist Studienleiter für Theologie und Ethik