Wie weiter in der neuen Legislaturperiode?
28.04.2022 - 29.04.2022
Der Arbeitsmarkt insgesamt hat die Coronakrise recht gut überstanden. Langzeitarbeitslosigkeit und Langzeitleistungsbezug im SGB II sind jedoch deutlich angestiegen. Es droht die Gefahr, dass Personen, die schon bislang Schwierigkeiten hatten, bedarfsdeckende Arbeitsplätze zu finden, zu den Verlierern der Krise zählen. Welche Möglichkeiten gibt es, gegenzusteuern? Welche Weichenstellung sollte hierfür die Politik in der neuen Legislaturperiode vornehmen?
Am 28./29. April und 3. Mai beschäftigten sich insgesamt gut 130 Expertinnen und Experten online und in Präsenz mit der Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose in der neuen Legislaturperiode. Angesichts der Vielzahl der anstehenden Themen, wurde ein Schwerpunkt auf die Themen Weiterbildung und Qualifizierung, Unterstützung von Menschen mit Fluchterfahrung (gerade auch, aber nicht nur vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine), dem vereinfachten Zugang zum SGB II und dem § 16i SGB II gelegt.
Die geplante Abschaffung des Vermittlungsvorrangs wurde überwiegend begrüßt, z.T. mit der Einschränkung auf jene Fälle, in denen durch Weiterbildung und Qualifizierung eine nachhaltigere Integration wahrscheinlich ist. Ebenso wurde einhellig begrüßt, dass durch ein Weiterbildungsgeld mehr Anreize für Weiterbildung im SGB II gegeben werden sollen. Kontrovers wurde diskutiert, ob 150 € hierfür ausreichend sind. Die Weiterbildungsberatung wurde als sehr wichtig erachtet. Dass dabei Online-Plattformen zum Einsatz kommen sollen, wurde ambivalent beurteilt. Wichtig ist es, in diesem Falle Datenschutz zu gewährleisten, unübersichtliche Doppelstrukturen zu vermeiden und zu verhindern, dass KI, die auf den Erfahrungen (und damit auch Stereotypen) der Vergangenheit aufbauen, diese einfach fortschreiben, z.B. bzgl. der Gender-Rollen in der Berufswelt.
Betont wurde die Notwendigkeit berufsspezifischer Sprachförderung. Diese sollte in engem Zusammenhang zu den beruflichen oder qualifizierenden Kontexten stehen. Dies ist zwar deutlich teurer, aber auch wesentlich effektiver. Insgesamt sollten die Bemühungen bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen verbessert werden.
Studien zeigen, dass Maßnahmen für Menschen mit Fluchterfahrung in der Vergangenheit überwiegend hilfreich waren. Allerdings wurden auch Verbesserungsempfehlungen ausgesprochen: Schnelle Maßnahmen sind hilfreicher! Verzögerungen, z.B. aufgrund von Mittelknappheit sollten vermieden werden. Geflüchtete Frauen und ihre besonderen Bedürfnisse sollten noch stärker beachtet werden. Stereotype bei der Förderung sollten abgebaut werden. Es ist wichtig, die Maßnahmen möglichst nah am Bedarf des Arbeitsmarktes auszurichten und engen Kontakt zu den Arbeitgebern aufzubauen. Auch in diesem Kontext wurde die Bedeutung von berufsspezifischer Sprachförderung betont.
Aus aktuellem Anlass wurde ausführlich die Situation von Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, erörtert. Der schnelle Eintritt ins SGB II wurde überwiegend begrüßt, auch wenn auf Risiken im Bereich der Unterbringung verwiesen wurde. Um die Aufgaben gut bewältigen zu können, sind aber zusätzliche Ressourcen beim Eingliederungstitel und Verwaltungskostenbudget erforderlich.
Die Entfristung des § 16i SGB II wurde überwiegend begrüßt. Verbesserungsbedarf scheint beim Coaching und insb. der Weiterbildung zu bestehen. Frauen scheinen in der Maßnahme unterrepräsentiert zu sein. Auch die Förderhöhe wurde z.T. hinterfragt. Ohne zusätzliche finanzielle Mittel wird das Instrument auch bei einer Entfristung künftig für wenige Menschen zusätzlich genutzt werden können. Diskutiert wurde, ob eine stärkere Nutzung des Passiv-Aktiv-Transfers helfen kann.
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Anerkennung der vorhandenen Wohnung und der Verzicht auf die Vermögensanrechnung in den ersten beiden Jahren des Leistungsbezugs wurde einerseits begrüßt, da ein (drohender) Wohnungswechsel die Integrationschancen beeinträchtigen kann. Andererseits wurde vor den Auswirkungen auf die Mietpreise und das Gerechtigkeitsempfinden insb. von Menschen mit niedrigen Erwerbseinkommen verwiesen. Eine stärker „auf Augenhöhe“ vereinbarte Teilhabevereinbarung wurde einerseits begrüßt. Andererseits wurde diskutiert, ob als ultima ratio nicht auch weiterhin ein ersetzender Verwaltungsakt möglich sein muss. Eng mit dieser Frage hängt das Thema Sanktionen zusammen, zu dem der Bundestag kurz nach der Veranstaltung ein Moratorium bis zum Jahresende beschlossen hat. Auch hier gilt, dass es etliche Stimmen gibt, die Sanktionen als ultima ratio durchaus befürworten, auch wenn das Thema wie auch schon in der Vergangenheit, kontrovers diskutiert wurde.
Dr. Joachim Lange, Evangelische Akademie Loccum
Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok, Vorsitzende, Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. und Professorin für VWL, insbesondere Sozial- und Wirtschaftspolitik, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Dr. Kerstin Bruckmeier, Leiterin, Forschungsgruppe Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB, Nürnberg
Prof. Dr. Matthias Knuth, Institut Arbeit und Qualifikation IAQ, Duisburg
Petra Kaps, ZEP – Zentrum für Evaluation und Politikberatung, Berlin
Evelyn Räder, Leiterin, Abteilung Arbeitsmarktpolitik, DGB Deutscher Gewerkschaftsbund, Berlin
Olivia Trager, BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin
Dr. Fabian Beckmann, Sektion Soziologie, Fakultät für Sozialwissenschaft Ruhr Universität Bochum
Dominik Schad, Geschäftsführer, Vestische Arbeit, Jobcenter Kreis Recklinghausen
Dr. Irene Vorholz, Stellvertreterin des Hauptgeschäftsführers und Beigeordnete, Dezernat Soziales und Arbeit, Deutscher Landkreistag, Berlin
Johannes Pfeiffer, Vorsitzender der Geschäftsführung, Regionaldirektion Niedersachsen-Bremen, Bundesagentur für Arbeit, Hannover
Dr. Annabelle Krause-Pilatus, Institut zur Zukunft der Arbeit IZA, Bonn
Prof. Dr. Jörg Roche und Hilke Lindner-Matthiesen, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Ludwig-Maximilians-Universität München
Sandra Lüke, Beauftragte für Migrationsthemen am Arbeitsmarkt, JobCenter Region Hannover
Armin Mittelstädt, Geschäftsführer, Kommunale Arbeitsförderung - Jobcenter, Ortenaukreis, Offenburg
PD Dr. Joachim Wolff, Leiter, Forschungsbereich Grundsicherung und Aktivierung, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB, Nürnberg
Marc Hentschke, Vorsitzender, Evangelischer Fachverband Arbeit und soziale Integration und Geschäftsführer, Neue Arbeit Stuttgart
Stephan Schmid, Leiter, Referat Grundsatzfragen der Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsmarktforschung, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin
Michael Stier, Geschäftsführer, JobCenter Region Hannover
Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok, Berlin
Moderation: Dr. Joachim Lange, Loccum