Koordination und Kooperation von Arbeit in Betrieben und Sorgenetzwerken
17.01.2024 - 18.01.2024
Angesichts des demographischen Wandels und des Fach- und Arbeitskräftemangels steht die häusliche Versorgung pflegebedürftiger Personen vor großen Herausforderungen. Sie werden sich nur bewältigen lassen, wenn es gelingt, Sorgenetzwerke zu stärken, die Erwerbsarbeit und private Care-Arbeit, professionelle ambulante Dienste und ehrenamtliches Engagement miteinander zu verbinden. So wird die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für pflegende An- und Zugehörige verbessert. Was ist hierfür zu tun?
Das Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft Ostwestfalen-Lippe veröffentlichte einen Rückblick zu dieser Tagung unter dem Titel: „Gemeinsam geht es besser allein: regionale Sorgenetzwerke verbessern Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“. Sie können die Bericht auch direkt hier lesen:
Gemeinsam geht es besser als allein
Regionale Sorgenetzwerke verbessern Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.
Bielefeld, 23. Januar 2024 – Die meisten Unternehmen haben die Relevanz des Thema Pflege für den eigenen Betrieb erkannt, sind aktuell aber noch nicht bzw. nur unzureichend auf diese Herausforderung vorbereitet. Dies ist nur eine von vielen Erkenntnissen der Fachtagung „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege – Koordination und Kooperation von Arbeit in Betrieben und Sorgenetzwerken“, die vom 17.-18. Januar 2024 auf Einladung der Evangelischen Akademie Loccum in Loccum/Niedersachsen stattfand.
Sie gehen in Voll- oder Teilzeit einer beruflichen Tätigkeit nach und kümmern sich gleichzeitig um die häusliche Versorgung von pflegebedürftigen Personen: für rund drei Millionen pflegende Angehörige bedeutet der Feierabend im Büro, Betrieb oder Homeoffice häufig nicht das Ende ihres Arbeitstages. Oft geht es zuhause nahtlos über in die Pflege und Versorgung von Eltern, Kindern oder nahen Anverwandten. Eine Doppelbelastung, die viele Betroffene an ihre psychischen und physischen, aber auch an finanzielle Grenzen führt. Für Michaela Evans-Borchers vom Institut Arbeit und Technik (IAT) an der Westfälische Hochschule Gelsenkirchen und Mitglied im „Rat der Arbeitswelt“ eine Situation, die ein grundsätzliches Umdenken erfordert: „In Zeiten von Fach- und Arbeitskräftemangel erleben wir aktuell enorme Veränderungen in der Arbeitswelt, die die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf maßgeblich beeinflusst. Es reicht nicht mehr aus, nur professionelle Pflegeinfrastrukturen oder familiale Pflegearbeit in den Blick zu nehmen. Denn viele Pflegeunternehmen sind selbst vom Fachkräftemangel betroffen. Damit kommen wir keinen Schritt weiter, sondern laufen nur Gefahr, dass sich in Zeiten, wo viel über Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt oder betriebliche Weiterbildung zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit diskutiert wird, die ohnehin schon ungleiche Teilhabechancen und Arbeitsverhältnisse der Betroffenen weiter verschlechtern.“ Daher fordert sie eine Abkehr von der bisherigen Individualisierung der Vereinbarkeitsgewährleistung hin zur Etablierung und Stärkung eines regionalen Unterstützungs- und Sorgenetzwerkes, das den Kreis der eingebundenen Akteure um Unternehmen und Betrieben erweitert. Evans-Borchers: „Wir brauchen neue Formen der Organisation und Koordination individueller, betrieblicher und regionaler Unterstützungskapazitäten. Solche strukturellen Veränderungen würden die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege deutlich erleichtern.“
Viele Unternehmen sind nicht auf den Ernstfall vorbereitet
Ein Zukunftsszenario, in dem auch Arbeitgeber eine zentrale Rolle einnehmen sollen. Die seien sich zwar der Relevanz des Themas für den eigenen Betrieb bewusst, laut den Forschungsergebnissen von Dr. Angelika Kümmerling vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) häufig aber nicht oder nur unzureichend auf die Bedarfe und Nöte von Pflegenden Angehörigen vorbereitet. So beruhen viele der in diesem Zusammenhang getroffenen Regelungen auf individuellen Absprachen. Tatsächlich ist es laut Marie-Theres Husken, Referentin Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) e.V., gerade für kleine und mittelständische Unternehmen schwierig, die oft kurzfristig gestellten Anfragen von pflegenden Mitarbeiter:innen über betriebliche Regelungen präventiv abzufedern. „Viele unserer Mitgliedsunternehmen haben nicht die Kapazitäten, um Personallücken kurzfristig zu schließen. Um Engpässe zu vermeiden, werden diese Themen daher oft informell und auf dem kurzen Dienstweg geregelt.“ Anders sieht es dagegen in größeren Unternehmen und Konzernen mit Tarifpartnern und einer starken Interessenvertretung aus, wie beispielsweise bei der Deutschen Bahn AG. Hier sind laut Nadja Houy, Vorsitzende der Bundesfrauenleitung der EVG und stellvertretende Vorsitzende im Betriebsrat der Deutschen Bahn AG Konzernleitung, zahlreiche Pflegethemen über eine Rahmen-Konzernbetriebsvereinbarung geregelt: „Bei uns haben pflegende Angehörige und Eltern, die aufgrund ihres Pflegeengagements bzw. ihrer Betreuung ihre Stelle reduzieren müssen oder sich befristet beurlauben lassen, weiterhin Anspruch auf ihren Arbeitsplatz. Außerdem bieten wir zahlreiche Leistungen rund um die Themen Mutterschutz, Elternzeit- und -urlaub sowie der Pflege von Familienangehörigen. Dies sind u.a. während der Beurlaubung Anspruch auf Qualifizierung zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit, Unterstützung zur Findung von Betreuungseinrichtungen und in vielen besonderen Belastungssituationen. In problematischen Fällen, vor Ort, können Betroffene auch eine Clearingstelle einschalten, die sich um eine Lösung zwischen den Parteien kümmert.“ Der Umstand, dass die Clearingstelle für die Größe des Unternehmens erstaunlicherweise nur in geringem Maße benötigt wird, zeigt das gute Miteinander und Verständnis für die Probleme der Mitarbeitenden in den einzelnen Betrieben, ist aber kein Einzelfall, bestätigt Prof. Dr. Dr. hc Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück: „Laut VdK-Pflegestudie nutzen tatsächlich nur knapp neun Prozent der befragten Pflegenden Angehörigen die Möglichkeit der kurzfristigen Freistellung. Dies kann eine bewusste Entscheidung sein, da es auch um deutliche finanzielle Einbußen geht. Möglicherweise wissen die Betroffenen aber auch nicht von ihrem Anspruch. Hier müssten Beratungsstellen und Unternehmen in der Kommunikation einiges nacharbeiten.“
Überbetriebliche regionale Netzwerke aufbauen
Um die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu verbessern, bedarf es nicht nur des Zusammenspiels von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Gefragt sind funktionierende Sorgenetzwerke, in denen unter anderem Kommunen, Pflegedienstleister und Krankenkassen integriert sind. „Solche innovativen Ansätze der Vernetzung sollten auch neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung sowie neue Qualifikationsprofile und Kompetenzen der beruflichen Pflege systematisch berücksichtigen“, so Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler von der Universität Osnabrück.
Gerade für mittelständische Unternehmen wären überbetriebliche regionale Netzwerke von großer Bedeutung, wenn es darum geht, eigene Mitarbeiter:innen in der Angehörigenpflege sinnvoll zu unterstützen. „Da die Möglichkeiten dieser Unternehmen oft limitiert sind, wollen wir getreu dem Motto „Gemeinsam geht es besser als allein“ den Kreis der beteiligten Akteure erweitern und vernetzen, zum Teil auch neu verknüpfen“, berichtet Jan Hendrik Schnecke, Projektmanager am Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL. Gemeinsam mit Silke Völz vom Institut Arbeit und Technik (IAT) stellte er auf der Fachtagung die Ergebnisse des Projekts work&care vor. Aus den Ergebnissen einer Unternehmensbefragung wurde sichtbar, wie Unternehmen auf unterschiedliche Weise pflegende Erwerbstätige unterstützen. Nach erfolgtem Abschluss und Auswertung soll die Initiative nun in der Region Ostwestfalen ausgerollt werden. Zum Portfolio zählen die Ausbildung von Pflegelotsen und überbetriebliche Unterstützungsangebote ebenso wie der gegenseitige Erfahrungsaustausch und eine stärkere Vernetzung. „Hier gibt es noch einiges zu tun, aber unsere Gespräche zeigen, dass es auf allen Seiten eine hohe Bereitschaft gibt, diesen kooperativen Ansatz zu unterstützen und die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege weiter zu verbessern“, ist Jan Hendrik Schnecke optimistisch.
Abkehr von alten Rollenmustern öffnet neue Perspektiven
Ob work&care, das Landesprogramm NRW, Anwendungsbeispiele aus der regionalen Case-Management-Praxis oder aktuelle Forschungsarbeiten am IAT und IAQ – die Fachtagung in Loccum hat gezeigt, dass sich beim Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege einiges tut. Ein Anfang ist gemacht, aber weitere Schritte müssen folgen, auch nach Ansicht von Michaela Evans-Borchers: „In vielen Betrieben reden wir immer noch mehr über Kinderbetreuung als über die Pflege von Angehörigen. Beides hat seine Berechtigung, aber gerade mit Blick auf die Angehörigenpflege müssen wir umdenken.“ Dazu gehört auch die stärkere Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse beim Thema Vereinbarkeit. Mit rund 65 Prozent sind es immer noch vor allem Frauen, die die Angehörigenpflege übernehmen. Pro Tag wenden Frauen im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Auch bei den Verdiensten und Rentenansprüchen ist die Diskrepanz zwischen Männern und Frauen nach wie vor erheblich. „Jede fünfte Pflegeperson ist von Armut bedroht, bei den pflegenden Frauen ist es jede vierte.“, berichtet Antje Asmus, Arbeitsfeldleiterin beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin. Eine Situation, in der vor allem auch regulatives Engagement durch den Staat gefordert ist. Erste Fortschritte in der Pflegepolitik dafür gäbe es zwar, aber noch stünden die Betroffenen mit dem Thema weitgehend allein da. „Für den Deutschen Verein ist zentral, dass die Möglichkeiten zur Teilhabe am Erwerbsleben für pflegende Frauen durch die Bereitstellung von hochwertigen Pflege- und Betreuungsdiensten erweitert werden.“
Dr. Joachim Lange, Evangelische Akademie Loccum
Michaela Evans, Institut Arbeit und Technik (IAT), Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Mitglied im „Rat der Arbeitswelt“
Prof. Dr. Dr. hc. Andreas Büscher, Hochschule Osnabrück
Antje Asmus, Leiterin, Arbeitsfeld II – Kindheit, Jugend, Familie, Soziale Berufe, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin
Gemeinsame Diskussion
Greta Ollertz, Projektleiterin im Kuratorium Deutsche Altershilfe, Berlin/Köln
Marie-Theres Husken, stellvertretende Leitung Volkswirtschaft, Der Mittelstand. BVMW e.V. Bundesverband, Berlin
Nadja Houy, Vorsitzende Bundesfrauenleitung, EVG Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft und stv. Vorsitzende, Betriebsrat DB AG Konzernleitung, Frankfurt a.M. (digital)
Silke Völz, Institut Arbeit und Technik (IAT), Westfälische Hochschule Gelsenkirchen & Jan Hendrik Schnecke, Projekt-manager, ZIG Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL, Bielefeld
Gemeinsame Diskussion
eingeleitet durch einen Kommentar von
Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Universität Osnabrück
PD Dr. Guido Becke, Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw), Universität Bremen
Dr. Angelika Kümmerling, Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), Universität Duisburg-Essen, Duisburg
Gemeinsame Diskussion
Anschl. Gelegenheit zum informellen Austausch
Sebastian Fischer, Vorstandsmitglied, wir pflegen e.V., Berlin
Christiane Caspari, Bereichsleitung Pflegedienst, Ambulanter Pflegedienst Stiftmobil, Metternich
Prof. Dr. Thomas Klie, Institutsleiter der AGP Sozialforschung & Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze), Freiburg (digital)
Janet Cordes, Gerontologie M.A., Abteilung Pflegewissenschaft, IGB, Universität Osnabrück
Hanna Reurik, Public Health Care B.A., Case Managerin nach DGCC, Pflegestützpunkt Grafschaft Bentheim
Gemeinsame Diskussion
eingeleitet durch einen Kommentar von
Uwe Borchers, Geschäftsführender Vorstand, ZIG Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL, Bielefeld
(Ankunft in Wunstorf ca. 13.30 h)